Memorandum

Modernität kann im Gewand der Vergangenheit hervortreten. Das ist eigentümlich für alle Renaissancen - Jacques Le Goff (1976)

Berlin ist die Welthauptstadt der Bauausstellungen: IBA 1987, Interbau 1957, Deutsche Bauausstellung 1931 und Städtebau-Ausstellung 1910. Das ist nicht nur ein herzeigbares Erbe, sondern auch eine Verpflichtung für die Zukunft.

Eine Internationale Bauausstellung muss eine klare, sofort verständliche Botschaft vermitteln, die auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen antwortet und auf  neue städtebauliche Ziele von lokaler wie internationaler Bedeutung verweist. Sie muss Orte auswählen, in welchen die Botschaft überzeugend vermittelt werden kann. Sie muss Leitprojekte von hoher gestalterischer und prozessualer Qualität entwickeln, welche in den Orten die Botschaft erfahrbar machen. Und sie muss ein Verfahren entwickeln, das der Aufgabe angemessen, finanziell ausreichend ausgestattet und von der Senatsverwaltung relativ unabhängig ist. Insgesamt muss eine IBA eine städtebauliche Wende zum Ausdruck bringen. Die bisherigen Überlegungen zu einer IBA 2020 haben keine verständliche Botschaft, keinen verständlichen Ort, keine klaren Leitprojekte und kein verständliches Verfahren als Ergebnis gebracht. Noch ist es Zeit, sich neu zu orientieren.

Botschaft
Die Renaissance der Stadtmitte ist eine verständliche, dringende lokale wie internationale Botschaft. Welche Rolle soll die Stadtmitte künftig in einer nachhaltigen, weit ausgreifenden Großstadtregion spielen? Sie repräsentiert deren Einzigartigkeit, deren reiche, widersprüchliche Vergangenheit, sie überwindet die Lasten des autogerechten modernen Städtebaus, sie bietet Räume und Bauten zur Identifikation für alle Berliner und deren Gäste, gleich welcher sozialen und ethnischen Herkunft, gleich welcher religiösen und geschlechtlichen Orientierung. Sie setzt bauliche Zeichen für die symbolische, funktionale und gestalterische Form einer Stadtmitte von morgen. Berlin mit seiner besonderen Geschichte ist wie keine andere europäische Großstadt gefordert und geeignet, all diese Herausforderungen zu meistern: In Berlin wurde in den 1960er und 1970er Jahren  die Stadtmitte so radikal modernisiert wie in keiner anderen europäischen Hauptstadt, in Berlin gibt es aber auch Raum für Gestaltungsmöglichkeiten. Berlin  muss seine Vergangenheit neu bedenken – einschließlich der in der  Öffentlichkeit nahezu vollständig vergessenen 500 Jahre vor dem 30jährigen Krieg, als Berlin noch klein war, einschließlich der diktatorischen Vergangenheiten des 20. Jahrhunderts. Das Projekt der historischen Vergewisserung ist kein Vergangenheitsprojekt, sondern ein Zukunftsprojekt, ein Projekt der lokalen, nationalen und internationalen Darstellung Berlins als Stadt der Toleranz und Nachhaltigkeit. Dazu gehören Orte und Institutionen, die dieser Darstellung dienen, dazu gehört aber auch ein städtebauliches Programm, in das diese Orte und Institutionen eingebettet sind.

Ort
Das Gebiet einer Berliner IBA Stadtmitte ist klar: Es umfasst das Gebiet des mittelalterlichen Berlin, der historischen Doppelstadt Berlin/Cölln (siehe Plan). Während die alte City, die nördliche Friedrichstadt und die Dorotheenstadt mit ihren Hauptstraßen Unter den Linden und Friedrichstraße, im Grundsatz während der letzten drei Jahrzehnte reurbanisiert worden ist, ist die Gestaltung der Stadtmitte ungeklärt, ja umstritten. Sie ist daher eine zentrale Aufgabe für morgen.

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Markierung des IBA-Gebietes im Straube-Plan von 1910 (Kartengrundlage: Staatsbibliothek zu Berlin PK)

Für eine Renaissance der Mitte gibt es allgemeine Ziele, deren konkrete Ausformulierung offen ist und dem IBA-Prozess überlassen werden soll:

  • Orientierung am Jahrhunderte alten Stadtgrundriss unter Einbezug neuer Eingriffe und künftiger Projekte, Abschied von der autogerechten Stadt in der Mitte,
  • städtische Balance zwischen neu gestalteten Freiflächen und neuer Bebauung,
  • Mischnutzung mit einem hohen Wohnanteil, aber auch mit kulturellen bzw. stadtbürgerlichen Einrichtungen.


Leitprojekte
Im Gebiet des ehemaligen mittelalterlichen Berlin gibt es bereits einige Projekte, die jeweils isoliert gedacht und geplant werden. Dazu gehören das Projekt des so genannten Klosterviertels, das seit Jahren stagniert, das Projekt zur Neugestaltung  der ehemaligen Mitte von Cölln, das begonnene Projekt der Neugestaltung des Gebietes zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Stadtbahn (Rochstraße) sowie das Humboldtforum samt dessen Umfeld. Dazu kommt als größte Herausforderung die Gestaltung des so genannten Rathausforums. Strukturell stellt sich die Frage, wie der historische Stadtgrundriss – das wesentliche, langfristig wirksame städtebauliche Strukturelement – rekonstruiert und der Abschied von einer autogerechten Stadtmitte eingeleitet werden kann. Neben den weiter zu klärenden Leitprojekten gibt es eine weitere mehr oder  weniger noch zu gestaltende Schlüsselaufgabe: die bessere Vernetzung der Mitte mit der übrigen Stadt. Dabei spielen die wichtigsten Übergangsorte eine Rolle: der Spittelmarkt, die Kreuzung Stralauer Straße/Alexanderstraße, die Alexanderstraße  selbst, der Alexanderplatz und der Hackesche Markt.

Verfahren
Für die Stadtmitte gibt es bereits zahlreiche Pläne, Festlegungen, Beschlüsse, Teilprojekte sowie kleinere und größere Vorschläge aus der Zivilgesellschaft. Was fehlt, ist eine gemeinsame Plattform zur Diskussion dieser Planungen und Vorschläge sowie eine Grundorientierung, um der Diskussion eine nachhaltige Perspektive zu geben. Eine IBA Stadtmitte kann dieser Diskussion Raum und Ziel geben. Dafür bedarf es eines stabilen Ortes in der Stadtmitte, einer ausreichenden Ausstattung, einer Institution, die über Architekten und Stadtplaner hinaus auch Historiker, Künstler, Kulturschaffende, Touristikexperten und Zukunftswissenschaftler umfasst – mit lokalen wie internationalen Erfahrungen. Mit anderen Worten: Es bedarf einer gesellschaftlich erarbeiteten Vision für die Stadtmitte – eine Vorbedingung jedes konkreten Projektes.

Städtebauliche Wende
Wenn wir die Pläne, Vorschläge und Debatten über die Berliner Mitte seit dem Fall der Mauer betrachten, so zeigt sich eine große Hilflosigkeit, eine Unsicherheit, was denn eine Stadtmitte ist, und wie ein Ort, der eine 800jährige komplexe, widersprüchliche Geschichte hat, zukunftsorientiert und nachhaltig gestaltet werden kann. Die Antworten müssen also noch gefunden werden. Für die Berliner Stadtregion ist die Suche nach diesen Antworten eine Schlüsselaufgabe. Sie ist aber zugleich eine Aufgabe von außerordentlichem internationalen Interesse. Auch in anderen Großstädten stellt sich die Frage, wie der Abschied von einem autogerechten Zentrum und einem monofunktionalem, partiell verödetem Central Business District eingeleitet und wie die Stadtmitte als wirtschaftlich wie ökologisch nachhaltiges, schönes, historisch faszinierendes, Identifikation stiftendes, sozial inklusives und tolerantes Schaufenster der Stadtregion gestaltet werden kann.

Berlin, Mai 2013
Ansprechpartner der Planungsgruppe Stadtkern:
Prof. Dr. Harald Bodenschatz (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.)
Dr. Benedikt Goebel (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.)
Prof. Petra Kahlfeldt (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.)
Prof. Hildebrand Machleidt (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.)