Sechs Bürgervereine formulieren ihre Erwartungen an die Koalitionäre. Ihre Hauptforderung: Mitspracherechte endlich ernst nehmen. Vorschläge haben sie viele.
Berliner-Zeitung vom 24.10.2021 von Dirk Laubner

Sechs Bürgervereine, die sich für die Entwicklung einer lebenswerten Innenstadt engagieren, formulieren ihre Erwartungen an die Koalitionäre, die in den nächsten Jahren die Politik bestimmen. Die Hauptforderung: Mitspracherechte endlich ernst nehmen.

Mitte für alle: Es ist an der Zeit. Lasst Berlin entscheiden!

Hinter dem Roten Rathaus liegt Berlins schrecklichster Nicht-Ort: eine 50 Meter breite Straße , Baustellen , Gebäude ohne Bezug, ohrenbetäubender Lärm, dreckige Parkplätze, abgefetzte Plakate der Senatsverwaltung, die das Areal als zukunftsträchtigen Ort anpreisen. Kaum zu glauben, dass dies einmal Berlins ältestes, schönstes und quirligstes Quartier war.

Doch die Stadtplanung der 1960er-Jahre hatte andere Vorstellungen und begrub diesen Ort unter der Grunerstraße und Parkplätzen. Nun soll dieses Areal – Molkenmarkt und Klosterviertel – bebaut werden. Wieder läuft alles schief: Die Grunerstraße wird nur verschoben, an der Lärmkulisse einer Autobahn ändert sich nichts. Im Bebauungsplan steht: Es wird so laut, dass ein Gewerberiegel gebaut werden muss, um die geplanten Wohnblöcke vom Lärm abzuschirmen. Dass derart abgeschirmte und obendrein monotone Wohnblöcke nicht zu einem lebendigen und vielseitigen Stadtkern werden, ist jetzt schon klar.

Wollen wir das wirklich? Das Bündnis Mitte für alle fordert: Die Stadtgesellschaft soll entscheiden, wie ihre Kernstadt aussehen soll! Wir wohnen, arbeiten und leben hier. Die Zeit ist gekommen, dass die Bürgerinnen und Bürger in echter Partizipation ihre Stadt mitgestalten. Geloste Bürgerräte bieten sich hierzu an. Durch das Losverfahren stehen sie nicht für Sonderinteressen, sondern für die vielfältige Stadtgesellschaft.

Experten beantworten den Bürgern Fachfragen, eine professionelle Moderation steuert den Prozess. Die Vorschläge der Bürgerräte werden öffentlich präsentiert, diskutiert und anschließend allen Berlinerinnen und Berlinern zur Abstimmung vorgelegt. Bertram Barthel, Dr. Benedikt Goebel, Giorgio Paschotta

Neues Viertel am Molkenmarkt Widerstand gegen Senatspläne: Was geloste Bürgerräte bewirken können

Stiftung Zukunft Berlin : Neue Impulse für die Demokratie

Berlin muss sich mehr zutrauen und große Probleme konsequenter angehen. Das gilt für die wichtigen Themen der Stadt, vom Wohnungsbau über Verkehrspolitik bis zu den Schulen, genauso wie für das Verhältnis zum Nachbarn Brandenburg und für die europäische Ausrichtung Berlins. Mehr Zutrauen ist auch für den Stil wichtig, in dem hier Politik gemacht wird. Unsere Demokratie braucht dringend mehr Offenheit für Impulse aus der Bürgerschaft.

Im Berlin -Forum hat die Stiftung seit Jahren gezeigt, wie der Dialog besser zu organisieren ist. Jetzt ist es wichtig, diesen Ansatz auszubauen, indem Entscheidungen absolut gleichberechtigt zwischen Politik und Bürgerschaft vorbereitet werden. Demokratieprojekte dieser Art würden Berlin stärken und nicht nur zu einer besseren Akzeptanz von Vorhaben führen, sondern auch zu besseren Ergebnissen für unsere Stadt.

Beim Wohnen muss der Fokus auf Tempo und Qualität der Fertigstellung neuer Wohnungen liegen, so das Ergebnis unseres zivilgesellschaftlichen runden Tischs Wohnen, der unterschiedliche Gruppen, besonders Mieter und Vermieter, ins Gespräch bringt. Politik und Gesellschaft müssen über Finanzierung und Miethöhen, Infrastruktur und innovative Baustoffe, Gebäudesanierung und Klimaschutzmaßnahmen gemeinsam beraten.

Für ein besseres Stadtmanagement sollte ein Verfassungskonvent die Zuständigkeiten zwischen Senat und Bezirken grundlegend klären. Die Politik hat sich immer wieder verhakt zwischen den verschiedenen Interessen. Ein mutiger Entwurf, der vielfältige Blockaden auflöst, ist dringend nötig, doch auch ihn wird es nur geben, wenn die Stadtgesellschaft von Beginn an einbezogen wird. Stefan Richter, geschäftsführender Vorstand

Stadtentwicklung Berlin will seine Mitte wiederbeleben: Fragt sich nur, wie

Denk mal an Berlin e. V.: Klagerecht für Denkmalschutz!

Der anstehende Wechsel in der Berliner Politik ermöglicht einen Neubeginn und ein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der Gesellschaft. In der Vergangenheit wurden in Berlin zu oft Entscheidungen getroffen, die keine Rücksicht auf die Geschichte der Stadt und ihre historischen Zeugnisse im Stadtbild nehmen.

Zwar gibt es immer mehr Beteiligungsangebote und Foren zur Stadtentwicklung, aber werden ihre Ergebnisse auch umgesetzt? Bei immer mehr Projekten gibt es konzertierte Einsprachen von Bürgerinnen und Bürgern – Mühlendamm und Mühlendammbrücke in Mitte, der Gasometer in Schöneberg, das Umfeld des Humboldt-Forums – doch sie verhallen ungehört.

Berlin ist für uns ein kultur- und sozialgeschichtlicher Kosmos mit mehr als 8200 Denkmälern, die aus den verschiedensten Lebenswelten und Jahrhunderten vom Mittelalter bis hin zur Gegenwart stammen. Die Bewahrung der Kultur ist bedeutend für folgende Generationen, und das muss im Fokus aller Akteure des städtischen Handelns stehen.

Wir sind daher fest davon überzeugt, dass es Zeit wird für ein Verbandsklagerecht im Denkmalschutz, so wie es das in anderen Bereichen der Gesellschaft wie zum Beispiel dem Umwelt- und Naturschutz bereits gibt. So kann sich die Bürgerschaft gegen die Abräumung der Berliner Geschichte zur Wehr setzen.

Daher wenden auch wir uns an die Politik und fordern mehr Achtsamkeit und Aufrechterhaltung von Denkmälern in ihrer Vielfalt, sodass sie eine sinnvolle Rolle in der Zukunft finden, dass sie Identität stiften, zugleich aber auch als Zeugen von Unrecht und Gewalt auftreten können! Elisabeth Ziemer, Vorsitzende

Stadtentwicklung Die Hauptstadt-Brache soll schöner werden

Berliner Historische Mitte e. V.: Raus mit den Bundesstraßen!

Die Frage, wie Berlin eine Stadtmitte erhalten kann, ist unklarer denn je – und das nicht erst seit der „Wende“ oder seit dem Schlossbau, sondern seit 100 Jahren: Damals kämpften Max Liebermann und Käthe Kollwitz für den Altstadterhalt und gegen die großen Straßendurchbrüche jener Zeit! Ohne Erfolg. Die riesige Schneise zwischen Schloß und Lustgarten wurde eiskalt „durchgehauen“ und in Richtung Osten autobahnähnlich entwickelt, mit noch mehr Übertreibung nach 1945/1960.

Keine 500 Meter weiter südlich davon ebenso – hier wurden, damals begonnen und ab 1960 im Zeichen des Autowahns weiter pervertiert, die schönsten und wichtigsten Teile des Alten Berlins im Asphalt vernichtet und begraben.

Was gibt es Edleres, als heute auf den Spuren von Käthe Kollwitz und Max Liebermann die Heilung und Wiedergutmachung der geschundenen Stadt zu verlangen? Drei Bundesstraßen führen durch Berlins Stadtmitte – dieser unerträgliche Zustand muss beendet werden.

Eine Stadtmitte ist per definitionem ein Ensemble aus politischer Mitte, umgeben von Markt oder Märkten, Geschäften, Museen, sozialen Angeboten, Kinos, Theatern, vielfältigen Gotteshäusern, Galerien, Restaurants, Cafés, Hotels und kleinen Eventflächen in einem schönen gebauten Zusammenhang mit interessanten Häusern und schönen Plätzen, Bäumen, Ausblicken und Attraktionen. Wir fordern:

1. Gesetzliche Aufhebung aller Bundesstraßen in der Stadtmitte

2. Rückkehr des Berliner Parlaments ins Rote Rathaus als politische kommunale Mitte

3. Anstreben einer Stadtmitte für alle im konventionellen Sinn der Mischung unter Beachtung der Stadtgeschichte

Annette Ahme, Vorsitzende

Forum Stadtbild Berlin e. V.: Alte Grundrisse sichtbar machen!

Wir sind ein im Jahr 2002 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich die Resensibilisierung des Berliner Bürgertums für Fragen der Architektur und Stadtbildpflege zur Aufgabe gemacht hat. Insbesondere gilt unser Augenmerk der Planung und Gestaltung der historischen Mitte der Stadt unter Wahrung des Respekts vor der Berliner Baugeschichte .

Das historische Zentrum der Berliner Mitte ist mehr oder weniger verschwunden. Man kann aber die Tradition, aus der Berlin als Stadt sein Selbstverständnis gewinnt, nur aufrechterhalten, wenn Orte der Erinnerung nicht entwertet oder zerstört werden. Insoweit kommt es jetzt darauf an, dass der historische Grundriss der Straßen und Plätze wieder sichtbar gemacht wird und als Basis für eine behutsame Wieder- bzw. Neubebauung in Verbindung mit Grünflächen dient.

Die aktuelle Planung für die östliche Innenstadt wird diesem Anspruch zur Wahrung und Weiterentwicklung der Berliner Identität nicht gerecht. Stattdessen sollte die Chance ergriffen werden, die gewünschte Urbanität durch eine Mischung von Gebäuden wie in der „Neuen Frankfurter Altstadt“ mit Aufenthalts- und Grünflächen herzustellen (beispielsweise zwischen Fernsehturm und Spree sowie am Molkenmarkt).

Wir fordern den Rückbau der Verkehrsschneisen der autogerechten Stadt und die Förderung einer emissionsfreien Mobilität. Die historische Mitte Berlins soll ihre Besucherinnen und Besucher in einer menschenfreundlichen Atmosphäre empfangen. Das Humboldt-Forum muss ein einladendes Umfeld anstelle der bestehenden Steinwüste erhalten. Bei alldem hat eine echte Bürgerbeteiligung und keine weitere Alibiveranstaltung stattzufinden! Andreas Volkmann, Holger Heiken, Wolfgang Schoele (Vorstand)

Neues Innenstadtviertel Am Molkenmarkt kann Berlin Liebe zur Stadt beweisen

Changing Cities: Sieben Maßnahmen für eine lebenswerte Stadt

Bei der letzten Senatswahl forderten wir mit dem Volksentscheid Fahrrad eine fahrradfreundliche Stadt; das Ergebnis war das Mobilitätsgesetz. Für die nächste Legislatur gilt: beschleunigte Umsetzung des Gesetzes sowie die Errichtung von Kiezblocks.

Unsere Bilanz nach drei Jahren Mobilitätsgesetz fiel verheerend aus: Im bisherigen Tempo wird das Gesetz nicht bis 2030, sondern bis 2220 umgesetzt. Davon würden nicht mal unsere Enkelkinder profitieren. Deswegen fordern wir:

1. Alle Bezirke sollen pro Jahr mindestens zwei Quartiere so umgestalten, dass motorisierter Durchgangsverkehr unterbleibt. Dafür muss der Senat mindestens zwei Planstellen pro Bezirk und zusätzlich jährlich 30 Millionen Euro einsetzen.

2. Um das Radverkehrsnetz bis 2030 fertigzustellen, muss der Senat bis 2026 insgesamt 750 Millionen Euro und 150 Planstellen für den Radverkehr einsetzen.

3. Ein berlinweites Projektmanagementteam für Planung, Bau und Unterhalt von Radverkehrsanlagen soll aufgebaut werden.

4. Der Senat muss in den ersten 100 Tagen eine wirksame Vision-Zero-Strategie verabschieden mit dem Ziel, die Zahl der Toten und Schwerverletzten bis 2026 um mindestens 40 Prozent zu senken.

5. Bis 2030 muss mindestens die Hälfte der bisherigen Abstellfläche für Pkw zu Verkehrswegen des Umweltverbunds, zu Aufenthaltsflächen und zu Grünflächen zur Schaffung von Klima-Resilienz umgewandelt werden.

6. Um die CO2-Reduktionsziele zu erreichen, dürfen im Stadtgebiet ab 2030 keine Kfz mit Verbrennungsmotor mehr unterwegs sein.

7. Der Senat muss dafür Sorge tragen, dass Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinsam an der Transformation der Stadt zu mehr Nachhaltigkeit arbeiten können. Ragnhild Sørensen, Sprecherin

Verkehr Rot-Rot-Grün gibt auf: Berliner Verkehrswende liegt auf Eis.

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