Senat schafft vollendete Tatsachen:  Friedrichstraße in Mitte bleibt autofrei
Berliner-Zeitung vom 14.10.2021 

Ein großer Teil der Einkaufsstraße wird dauerhaft Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Der umstrittene Versuch ist erfolgreich, hieß es jetzt.

Autos müssen draußen bleiben. Seit August 2020 ist die Friedrichstraße zwischen der Leipziger und Französischen Straße Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. So soll es auch künftig sein.

Berlin Der mittlere Bereich der Friedrichstraße in Mitte bleibt autofrei – und zwar dauerhaft. Der rund 500 Meter lange Fahrbahnabschnitt zwischen der Leipziger und der Französischen Straße, der Fußgängern und Radfahrer vor über einem Jahr versuchsweise überlassen wurde, soll unbefristet für Kraftfahrzeuge gesperrt bleiben. Das habe Verkehrssenatorin Regine Günther am Donnerstagsabend während einer Videokonferenz mitgeteilt, berichtete der Grünen-Politiker Stefan Lehmkühler der Berliner Zeitung. „Voraussichtlich im zweiten Quartal 2022 will der Senat beim Bezirksamt Mitte die Teileinziehung für den motorisierten Individualverkehr beantragen“, sagte er. Radverkehr bleibe möglich. Ein von der Senatorin präsentierter Zwischenbericht habe gezeigt, dass der Verkehrsversuch „ein voller Erfolg“ sei, so Lehmkühler.

Wo einst viele Autos unterwegs waren, gehört der Platz jetzt Fußgängern und Radfahrern. Flaniermeile Friedrichstraße oder, blumiger, „Friedrich, the Flâneur“: So heißt der Feldversuch, den der Senat und der Bezirk Mitte im August des vergangenen Jahres begonnen haben.

Erstmals Bäume und Sitzgelegenheiten auf der Einkaufstraße

Passanten, die sich bisher auf die schmalen Gehwege beschränken mussten, dürfen sich nun auch auf Teilen der Fahrbahn bewegen. Zudem wurde die Einkaufsstraße im östlichen Berliner Stadtzentrum erstmals begrünt, der Bezirk ließ Pflanzkübel mit 45 Kaiserlinden und 20 Amberbäume auf dem Asphalt aufstellen. Holzkonstruktionen mit Sitzgelegenheiten, Parklets genannt, stehen zum Ausruhen bereit. Nicht zu vergessen die „Showcases“: gläserne Vitrinen, in denen sich Geschäfte und andere Anlieger präsentieren können. In diese und andere Gestaltungselemente wurden während der ersten Projektphase, die im Januar endete, mehr als 260 000 Euro investiert.

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Doch ein echter Fußgängerbereich ist nicht entstanden, denn zu der Umgestaltung gehörte auch, dass in der Mitte der Einkaufsstraße ein vier Meter breiter Radfahrstreifen markiert wurde. Auch wenn dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde gilt und Zebrastreifen inzwischen hinzukamen, gab es von Anfang an Skepsis. Zwar sei es nicht hoch genug einzuschätzen, dass Autolärm und Abgase verschwunden sind, sagte Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS). „Ich halte es aber nicht für angemessen, die Friedrichstraße als Flaniermeile zu bezeichnen“, so der Sprecher. Denn wegen des breiten Radwegs hätten die Fußgänger nur wenig Platz hinzugewonnen.

Vonseiten einiger Anlieger gab es ebenfalls Kritik an dem „Radschnellweg“ auf der vermeintlichen Flaniermeile. Ein zukunftsfähiges Konzept sehe anders aus, bemängelte der Verein „Die Mitte“.

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Zu dem Projekt gehört auch eine Begleitforschung. Allein die Kosten der Verkehrserhebungen und die Auswertung der Verkehrsdaten beliefen sich während der ersten Projektphase auf rund 444 000 Euro, so der Senat. Es war der größte Posten bei den Aufwendungen, die sich während des Zeitraums bis Januar laut Verwaltung auf 1,076 Millionen Euro summierten. Der am Donnerstag vorgestellte Zwischenbericht ziehe für den Bereich rund um den gesperrten Abschnitt ein „sehr positives Fazit, sagte Stefan Lehmkühler.

Kosten summierten sich in der ersten Phase auf mehr als eine Million Euro

Zwar seien in der Charlottenstraße, die parallel zur Friedrichstraße verläuft, heute mehr Autos unterwegs als vorher. „Doch insgesamt ist der Pkw- Verkehr im Untersuchungsgebiet um ein Viertel zurückgegangen“, konnte der Anwohner betichten. Das habe auch dazu geführt, dass die Luft sauberer geworden ist: In der Friedrichstraße sei die Belastung mit Stickoxiden um 20 Prozent gesunken. Gestiegen ist dagegen der Fahrradverkehr – er nahm um 45 Prozent zu, so Lehmkühler weiter.

Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, der ebenfalls den Grünen angehört, berichtete über die Ergebnisse von Umfragen in dem Gebiet. 23 Gewerbetreibende hätten den Fragebogen vollständig ausgefüllt, sagte er. 19 hätten sich dagegen ausgesprochen, den früheren Zustand mit Autoverkehr wiederherzustellen. In drei Wellen wurden insgesamt rund tausend Passanten befragt. „74 Prozent der Befragten teilten mit, dass sie die Veränderungen gut oder sehr gut finden“, sagte Lehmkühler. 85 Prozent hatten zu Protokoll gegeben, dass sie sich eine solche Umgestaltung auch auf anderen Straßen in Berlin wünschen würden. Dagegen wünschten sich 13 Prozent der Befragten, dass auf der Friedrichstraße alles wieder so sein soll wie früher.

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Doch damit ist nun nicht mehr zu rechnen. Den Zwischenbericht möchte die Senatsverkehrsverwaltung an diesem Freitag ins Netz stellen. Bis zum Ende dieses Jahres soll der Abschlussbericht folgen. 2022 soll dann die Teileinziehung für den motorisierten Individualverkehr vollendete Tatsachen schaffen. Stefan Lehmkühler hofft, dass der erfolgreiche Abschluss des Verkehrsversuchs eine Initialzündung für weitere Straßenumgestaltungen wird. Der geplante Umbau des Gendarmenmarkts könnte ein Anlass dazu sein, auch dort Veränderungen zu planen. Lehmkühler hofft weiterhin, dass der gesperrte Abschnitt der Friedrichstraße bis zum Checkpoint Charlie verlängert wird. So viel steht fest: „Das ist erst der Anfang.“

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