Architekten wissen, wie die Welt zu retten ist - in der Theorie. Es kommt aber darauf an, in der Praxis des Städtebaus Vernunft walten zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.09.2021 von Matthias Alexander

Wenn es um die Zukunft der Städte geht, dann ist hierzulande vor allem vom nachhaltigen Bauen die Rede. Wie auch nicht: 30 Prozent des CO2-Ausstoßes gehen auf das Errichten und Unterhalten von Gebäuden zurück. Und deshalb wird es schnell grundsätzlich: Eine radikale Wende sei notwendig, eine Revolution. Der Ruf geht nicht zuletzt an die Architekten, und zumindest die Standesvertretung stellt sich der Verantwortung: "Haus der Erde" heißt das 2019 präsentierte Konzept des Bunds Deutscher Architekten, der künftig vor allem auf die Sanierung des Bestandes setzen und Neubauten, wenn überhaupt, dann möglichst ohne Verwendung von klimaschädlichem Beton errichten lassen möchte. Im Jahr darauf hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das "Neue Europäische Bauhaus " vorgestellt, das Nachhaltigkeit, soziale Inklusion und Ästhetik ins Gleichgewicht bringen soll. In einem aufwendigen Beteiligungsverfahren werden derzeit Ideen gesammelt.

Manche sind schon weiter, etwa der umtriebige Klimawandelfolgenforscher Joachim Schellnhuber, der sich in der Wahl großer Worte nur ungern übertreffen lässt und seinerseits das " Bauhaus der Erde" ausgerufen hat. Seine Parole: Die Erderwärmung ist zu stoppen, wenn alle Gebäude auf der Welt künftig aus Holz gebaut werden. Man muss dafür nur die globale Waldwirtschaft umstellen.

Das Vorgehen ist bekannt: Je größer die Herausforderung, desto entschlossener der Optimismus, die Sache zum allgemeinen Besten regeln zu können. Die Ausstellung im deutschen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig will da nicht zurückstehen. Die Kuratoren haben auf physische Objekte verzichtet, stattdessen imaginieren sie online abrufbare Bilder der Welt, wie sie sich 2038 präsentiert: Nach einer großen Wirtschaftskrise, ausgelöst durch den Zusammenbruch der großen Digitalkonzerne, hat sich die Menschheit zusammengerauft; Eigentum an Boden ist abgeschafft, man lebt im Einklang mit der Natur und verfügt souverän über die eigenen Daten.

In der real existierenden Gegenwart nehmen sich die Ansätze hierzulande ziemlich bescheiden aus. Andernorts in Europa scheint man dagegen schon weiter zu sein. Im Fahrradparadies Kopenhagen zum Beispiel. Und in Barcelona, wo man auf verkehrsberuhigte Superblocks setzt. In Paris wurde die 15-Minuten-Stadt ausgerufen. Man liest in Architekturpublikationen (gern zwischen zwei Artikeln, die Sichtbetonbauten feiern) viel von ihr und eigentlich immer nur Gutes: Innerhalb einer Viertelstunde - soll heißen: ohne Auto - ist in der Stadt der kurzen Wege alles zu erreichen, was man im Alltag benötigt: Arbeitsplatz, Arztpraxis, Lebensmittelladen.

Die großen Visionen bleiben nicht ohne Widerhall in deutschen Städten. Die Kommunalpolitik formuliert Vorgaben für die Planer. Man könnte von einem Lastenheft des Immobilienidealismus sprechen. Besonders dick fällt es für die Entwicklung des ehemaligen Flughafens Tegel in Berlin aus. Dort soll in den nächsten Jahren zum einen der Forschungs- und Industriepark Berlin TXL - Urban Tech Republic rund um das für die Beuth-Hochschule umzubauende Terminal entstehen, zum anderen das Wohnquartier Schumacher für bis zu 12 000 Bewohner.

Die landeseigene Projekt Tegel GmbH lässt nichts aus, was derzeit auf dem Wunschzettel steht: Sie verspricht günstige Mieten für eine sozial bunt gemischte Bewohnerschaft, die neue Wohnformen erproben kann; eine Vielzahl von Bauherren , darunter nicht zuletzt Genossenschaften und Baugruppen , soll weitgehend mit Holz bauen , das aus der Region stammt und von regionalen Unternehmen verarbeitet wird; zu ihren Wohnungen kommen die Schumacher-Kiezbewohner mit emissionsfreien Mobilitätsangeboten; eine Vielzahl von Sensoren wird sich darum kümmern, die Abläufe in dieser Smart City effizient und sicher zu gestalten, bei voller Wahrung der Datenautonomie; das Ganze ist als sogenannte Schwammstadt ausgelegt, eine, die Wassermassen selbst von Starkregenereignissen speichern kann; und mithilfe der Begrünung von Dächern und Fassaden soll die Biodiversität nicht nur erhalten, sondern sogar gesteigert werden.

Großer Wurf oder Größenwahn? An den Zielen der Planung, die Nachhaltigkeit auch in einem gesellschaftlichen Sinn versteht, ist wenig auszusetzen. Erstaunlich ist allerdings das Selbstbewusstsein, ein solch komplexes, mit kaum erprobten technischen Innovationen gespicktes Projekt koordinieren zu können, wenn schon viel kleinere Vorhaben hierzulande nicht funktionieren. Auch die Tegel Projekt GmbH wird es mit überzogenen und teils widersprüchlichen Vorschriften, unterbesetzt-überforderten Behörden und Bauunternehmen , die mehr Juristen als Ingenieure und Poliere beschäftigen, zu tun haben.

Von den Kosten ganz zu schweigen. Der extreme Preisanstieg für Bauholz im Frühjahr ist nur ein Beispiel, das zur Vorsicht mahnt. Er hat gezeigt, dass die Erwartung der Tegel Projekt-Gesellschaft, man werde vom dritten Bauabschnitt an in Holzbauweise günstiger bauen als mit konventionellen Methoden, auf tönernen Füßen steht, ganz abgesehen davon, dass es in Brandenburg noch keine Holzindustrie gibt, die der Aufgabe auch nur annähernd gewachsen wäre. Zudem wird die EU bei aller Neues- Bauhaus -Euphorie kaum zulassen, bei der Ausschreibung ausschließlich regionale Anbieter zu berücksichtigen.

Wer mit überambitionierten Projekten scheitert, wird der guten Sache nur bedingt weiterhelfen. Es wird nach Lage der Dinge darauf ankommen, robuste Lösungen zu finden, wer möchte, kann dafür das Modewort Resilienz verwenden. Das gilt zunächst für den Umgang mit dem Gebäudebestand. Es ist vernünftig, das Bewusstsein für die Bedeutung der "grauen Energie" zu schärfen, die in vorhandenen Bauten gebunden ist. Sanierung sollte wann immer möglich Abriss und Neubau vorgezogen werden. Doch auch hier werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen: So schön es klingt, Kaufhäuser zu Altenheimen umzubauen und Parkhäuser zu Wohnungen - in der Praxis ergeben sich immer wieder gewaltige Schwierigkeiten. Es wird mühsam werden und teuer.

Was Neubauten betrifft, spricht vieles dafür, sich auf älteres Wissen von ökologischem Bauen zu besinnen und nicht weiter auf technisch hochgerüstete Passivhäuser zu setzen, deren Bedienung viele Bewohner so überfordert, dass manche Wohnungsgesellschaft inzwischen zusätzlich traditionelle Heizkörper einbaut. Im Positionspapier des Architektenbunds finden sich erfreulicherweise Passagen, die sich gegen die Wärmedämmverbundsysteme aus Styropor wenden, dem erdölbasierten Sondermüll der Zukunft. Stattdessen propagiert es tradierte Bauweisen . Überhaupt ist das Papier angenehm frei von Schlaumeierei und Technikgläubigkeit. Stattdessen atmet es einen skeptisch-selbstkritischen Geist, Dinge auszuprobieren und gegebenenfalls zu korrigieren.

Dieser Pragmatismus ist im Fachdiskurs eher die Ausnahme. Was in der Debatte um die nachhaltige Stadt der Zukunft besonders irritiert, ist die Lebensferne vieler Vorschläge. Man nehme die 15-Minuten-Stadt: Wird es nicht auch künftig eher die Regel als die Ausnahme sein, dass der Facharzt des Vertrauens mehr als eine Viertelstunde von der eigenen Wohnung entfernt ist? Das Lieblingskino? Was gewinnt man durch dieses kleinräumige Denken in einer Stadt, die sich anschickt, den Verkehr emissionsfrei zu organisieren?Das Freiheitsversprechen, das die Anziehungskraft der Städte seit jeher ausmacht, wird von den Kiezspießern verraten. Schlimmer noch, ihr Konzept läuft auf eine noch stärkere Segregation der Milieus und sozialen Schichten hinaus.

Nun reagiert die Politik bevorzugt auf die Wünsche und Vorstellungen der Bewohner von innenstadtnahen Vierteln, die sich zu artikulieren wissen. Und die verstehen es besonders geschickt, für die Bemäntelung persönlicher Interessen ökologische Argumente anzuführen. Das ist vor allem in der Frage der Nachverdichtung zu beobachten. Entsprechende Projekte in der Nachbarschaft stoßen praktisch immer auf entschiedenen Widerstand, mögen sie noch so nachhaltig und sozial ausgelegt sein. Dabei müsste allen klar sein, dass sich der Flächenfraß durch Neubaugebiete an den Rändern der Städte und Ballungsräume - ein Trend, den die Corona-Pandemie wieder spürbar verstärkt - nur durch dichtere Bebauung in den Städten verhindern lässt. Singapur verfolgt diesen Ansatz konsequent. Als Gegenargument wird hierzulande dann gern die steigende Zahl von Tropennächten angeführt, die das Leben auf den städtischen Hitzeinseln demnächst angeblich unerträglich machen werden. Diese Sorge erscheint doch etwas übertrieben, sieht man einmal von topographischen Sonderfällen wie Stuttgart ab. Die meisten deutschen Städte sind bemerkenswert grün. Hier gibt es im internationalen Vergleich noch Gestaltungsspielraum.

Das bedeutet nicht, dass an der Nutzungsmischung nichts zu verbessern und dass nicht auf eine gleichmäßigere Verteilung von Grünflächen zur Verbesserung des Mikroklimas zu achten wäre. Die Konzepte der großen Immobilieninvestoren haben oft genug versagt, woran sich eine kleinmütige Politik mitschuldig gemacht hat. Wer über die nachhaltige Stadt spricht, muss deshalb auch über die Akteure reden. Es wäre von großem Vorteil, wenn mehr kleine private Bauherren und Baugenossenschaften zum Zuge kämen, das würde im besten Fall auch für die dringend benötigte höhere architektonische und städtebauliche Qualität sorgen und für eine engere Bindung der Bewohner an ihre Stadt. In Aachen etwa wird derzeit an einem Innenstadtareal erprobt, wie man Bürger, die die klassischen Beteiligungsverfahren oft dafür nutzen, etwas zu verhindern, zu Ideengebern macht, die sich dann auch als Bauherren engagieren.

Selbst wenn es niemand gerne hört und im Wahlkampf niemand ausspricht: Ohne Einbußen an Lebensqualität und ohne zusätzliche finanzielle Belastungen des Einzelnen wird sich die Welt nicht retten lassen, aber eben auch nicht ohne Erfinder- und Unternehmergeist. Die Städte können deshalb viel zur Lösung der Klimakrise beitragen, aber nur, wenn die Städter Städter bleiben und nicht zu Superdörflern werden wollen.

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