Die Grünen-Politikerin Regine Günther über ihre Startschwierigkeiten, überzogene Erwartungen, wie sie die viele Kritik aushält und ob sie ihr Amt behalten will.
Berliner-Zeitung.de vom 16.09.2021 von Markus Wächter

„Wer Senatorin oder Senator für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz wird, muss wissen, dass nicht mit viel Applaus zu rechnen ist“ – Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne).
Als Berliner Verkehrssenatorin muss Regine Günther hart im Nehmen sein. Autofahrer äußern Kritik, weil sie Privilegien verlieren, während viele Aktivisten enttäuscht darüber sind, dass die Mobilitätswende nicht schneller vorangeht. Ihr war klar, dass der Weg „enorm steinig“ wird, sagt die Quereinsteigerin nach fast fünf Jahren im Amt im Interview mit der Berliner Zeitung. Sie befürchtet, dass der klimagerechte Umbau Berlins Rückschläge erleidet, wenn Franziska Giffey (SPD) Regierende Bürgermeisterin wird.

Frau Günther, vor fast fünf Jahren haben Sie Ihr Amt angetreten. Wie fühlen Sie sich jetzt?
Regine Günther: Sehr gut, danke. Die letzten viereinhalb Jahre waren zweifellos anstrengend. Ich bin aber auch zufrieden, dass so viel gelungen ist.

Hat die Arbeit als Senatorin Sie verändert?
Ja, bestimmt. Mein Erfahrungshorizont hat sich natürlich erweitert und damit mein Blick auf Menschen und Herausforderungen verändert. Meine optimistische Grundhaltung habe ich mir bewahrt.

Haben Sie 2016 lange darüber nachgedacht, ob Sie Senatorin werden sollen?
Ich kam damals von einer internationalen Nichtregierungsorganisation. Insofern war die Frage, ob ich gewissermaßen die Seiten wechseln und Regierungsverantwortung übernehmen will, schon eine Richtungsentscheidung. Ich habe mir den rot-rot-grünen Koalitionsvertrag ausführlich angeschaut, um genau zu verstehen, wie viele und welche Aufgaben auf mich zukommen. Sehr schnell war mir klar, dass dies eine spannende Aufgabe wäre, aber die Umsetzung kein Spaziergang.

Trotzdem sind Sie von der Umweltschutzorganisation WWF Deutschland, für die Sie seit 1999 gearbeitet haben, in den Senat gewechselt. Was hat Sie gereizt?
Ich fand die Chance des Seitenwechsels sehr verlockend. Dies gibt es in Deutschland leider nicht so oft. Vorher hatte ich Forderungen an die Politik gerichtet, nun gab es die Möglichkeit, Politik selbst zu gestalten, Entscheidungen zu treffen und auch die Verwaltungspraxis näher kennenzulernen – das hat mich gereizt. Und ich habe es nicht bereut.

Hat Ihnen jemand davon abgeraten, den Posten zu übernehmen?
Nicht alle in meinem Umkreis waren gänzlich begeistert. Mir persönlich war klar, dass es enorm steinig werden würde, da wir gerade im Verkehrsbereich eine stark polarisierte Debatte haben. Es gab und gibt auf der einen Seite eine überbordende Erwartungshaltung, was wir nach jahrzehntelangem Stillstand in kürzester Zeit ändern sollen. Auf der anderen Seite wird noch von vielen jede Veränderung als Bedrohung und Infragestellung ihres Lebenskonzeptes begriffen. Ich habe insofern einiges an Kontroverse und Kritik erwartet.

Wurde Ihre Erwartung in dieser Hinsicht erfüllt?
Sagen wir so: Sie wurde übertroffen.

Als Sie dann im Amt waren: Womit hätten Sie nicht gerechnet?
Ich war erstaunt, wie schwer die unabweisbare Dauer von Veränderungsprozessen und Verfahren in Politik und Verwaltung zu vermitteln ist. Vielen war offensichtlich nicht klar, dass man ein straffes Programm nicht von heute auf morgen umsetzen kann, wenn das nötige Personal und die Verwaltungsstrukturen vollständig fehlen – wie bei meinem neu gebildeten Haus in den ersten beiden Jahren. Aber selbst wenn wir von Anfang an die nötige Ausstattung gehabt hätten, wären bestimmte Vorgaben des Koalitionsvertrags, etwa zum Infrastrukturausbau, nicht realisierbar gewesen. Es sollten bis zum Ende der Wahlperiode im Herbst 2021 nicht weniger als vier Tram-Neubaustrecken fertiggestellt werden, für weitere fünf Projekte sollte der erste Spatenstich erfolgen. Also neun Straßenbahnprojekte in einer Wahlperiode – das war und ist ausgeschlossen. Es sind in den 30 Jahren seit dem Mauerfall überhaupt nur zwölf Linien neu eröffnet worden. Wir planen aktuell 16 Strecken bis 2035 – das ist bereits mehr als doppelt so viel

Fühlten Sie sich falsch verstanden?
Nein, aber ich werbe hier sehr für Realismus. Natürlich müssen wir Verfahren weiter beschleunigen, wir brauchen Druck im System. Aber wenn wir politische Versprechen formulieren, die nicht erfüllbar sind, produzieren wir sehenden Auges Frustration in der Gesellschaft. Das hilft niemandem, übrigens auch nicht der Demokratie, die schon systembedingt langsamer ist. Ich habe immer wieder erklärt, wie lange manche Prozesse dauern. Und wenn eine Behörde, wie meine zu Beginn, nicht einmal das Personal hat, um Personal einzustellen, dann geht es nicht schnell. Dies ist jetzt überwunden: Sieben von acht Abteilungsleiterstellen sind neu besetzt, das Haus wurde neu strukturiert, die Verkehrslenkung integriert. Wer Verwaltung kennt, weiß, was das bedeutet. Und wir brauchen sehr leistungsfähige Verwaltungen, wenn wir so gewaltige Aufgaben wie die Folgen der Erderhitzung bewältigen, wenn wir eine andere Mobilität oder die Stadt umbauen wollen. Aufgeben ist da keine Option.

Gab es nicht doch einen Moment, in dem Sie kurz davor standen?
Nein, keinen einzigen.

Wirklich niemals?
Wenn Sie so ein Amt übernehmen, dann ziehen Sie sich nicht zurück, wenn es mal schwierig wird. Wer Senatorin oder Senator für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz wird und die nötigen Veränderungen ernsthaft vorantreiben will, muss wissen, dass nicht mit viel Applaus zu rechnen ist. Es wurden 30 Jahre verschlafen, Berlin zukunftsfest zu gestalten. Es wird deshalb immer jemand da sein, der jetzt ruft „zu spät, zu wenig“. Alles andere wäre eine Illusion.

Wie gehen Sie persönlich mit der Kritik um?
Kritik muss man auf Substanz prüfen, sie ist immer eine Gelegenheit für Selbstkritik. Aber eine gewisse Gelassenheit ist auch wichtig, um erfolgreich zu sein. Es gab ja auch viele Gelegenheiten, auf die erreichten Fortschritte stolz zu sein: Ich finde es immer wieder schön, wenn wir etwas zum Guten verändern können.

Worüber haben Sie sich am meisten gefreut?
Das ist sehr schwer zu beantworten, schon wegen der großen Zahl von Vorhaben in allen drei Bereichen meines Hauses. Ich bin wirklich froh, dass wir so viele Dinge neu starten konnten.

Nennen Sie doch mal Beispiele.
ch freue mich, dass Berlin nun in Deutschland einmalig die Fernwärme ökologisch reguliert, dass wir über das modernste Mobilitätsgesetz verfügen, dass wir die größten ÖPNV-Investitionen in der Berliner Geschichte anschieben konnten und dass Berlin sehr ambitionierte Klimaschutzziele beschlossen hat. Besonders freut es mich, dass wir mit dem Milliardenprojekt i2030 das Zusammenwachsen der Länder Berlin und Brandenburg endlich fördern: S-Bahn- und Regionalverkehrsnetze werden in lange nicht gekanntem Ausmaß ausgebaut, das hatten wir im Koalitionsvertrag noch gar nicht auf der Agenda. Das sind einige Big Points. Aber es gibt auch weniger prominente Dinge: etwa die Neuorganisation der Verkehrslenkung Berlin , einst die unbeliebteste Behörde Berlins , jetzt als Abteilung Verkehrsmanagement in meinem Haus ein Treiber der Verkehrswende . Und ich freue mich jedes Mal, wenn ich einen der vielen Elektrobusse sehe, die für die BVG durch Berlin fahren. Es gibt aber auch immaterielle Erfolge. Wir haben dazu beigetragen, dass über Mobilität und auch über Klimaschutz in Berlin völlig anders diskutiert wird als früher. Viele Menschen haben eine neue Perspektive auf ihre Stadt, sie bewerten anders, was für sie Lebensqualität heißt: nämlich mehr Grün, Entschleunigung, weniger Autos, mehr Platz für Menschen. Dass unsere Pläne für eine mittelfristig autofreie Straße Unter den Linden auf so ein positives Echo stoßen, wäre vor ein paar Jahren nicht möglich gewesen.

Apropos Mitte: Wird der Mittelteil der Friedrichstraße autofrei bleiben?
Das lässt sich noch nicht sagen. Noch läuft der Verkehrsversuch , den wir auswerten werden. Entschieden ist nichts, möglich ist vieles. Die Friedrichstraße und ihre nähere Umgebung brauchen noch mehr Impulse, gerade für die Zeit nach der Pandemie. Ich bin gerade hier dafür, nicht gleich alles endgültig in Beton zu gießen, sondern Dinge auch auszuprobieren, provisorisch umzusetzen und dann weiterzuentwickeln. Dieser flexible, anpassungsfreudige Pop-up-Ansatz wird gerade für die Verkehrswende von Stadtforschern sehr empfohlen.

Welche Widerstände, welche politischen und Verwaltungsstrukturen behindern die Mobilitätswende in Berlin ?
Gute Leute für die Verkehrsplanung zu finden, bleibt eine Herausforderung, auch wenn wir da große Fortschritte erzielen konnten. Beim Radverkehr auf Hauptstraßen ist das spezielle Berliner Handicap die Zweiteilung zwischen Bezirks- und Hauptverwaltung. Die Maßnahmen werden vom Bezirk geplant, aber finanziert, geprüft und angeordnet durch uns – für das Bauen ist dann wieder der Bezirk zuständig. Da sind mehrere Bremsen im System.

Ist es bei den Busspuren nicht auch so?
Da ist es genau das Gleiche. Wir haben angeordnet, das Netz der Bussonderfahrstreifen in Berlin um rund 25 Prozent auszubauen – in einem Maße wie vor uns niemand seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aber bisher haben die Bezirke nur einen Teil der geplanten neuen Busspuren tatsächlich angelegt. Sie haben es nicht geschafft, aus welchen Gründen auch immer.

Nicht immer und überall passen klimafreundliche Fortbewegungsarten gut zusammen. Die Fußgängerlobby kritisiert die Planung für die Radschnellverbindung am Teltowkanal. Sie würde dazu führen, dass Grün zerstört wird und Fußgänger an den Rand gedrängt werden.
Ich bin die Strecke mit den Fachleuten aus meinem Haus abgefahren. Wir müssen uns anschauen, welche Einschränkungen es wo gäbe und welche Möglichkeiten, sie zu vermeiden. Da müssen wir noch einmal in die Diskussion. Es ist ein klassischer Zielkonflikt: Wir wollen mehr Radverkehr, aber auch den Fußverkehr fördern und das Grün erhalten. Hier helfen nur gute Lösungen am Ort.

Verfechter der Mobilitätswende blicken neidisch nach Paris, wo Bürgermeisterin Anne Hidalgo die Mobilitätswende vorantreibt. Nervt Sie das? Wären Sie manchmal auch gern wie sie?
Madame Hidalgo ist die Pariser Regierungschefin und hat mit ihren Ideen und ihrem Willen, die Mobilität in ihrer Stadt zu ändern, viel bewegt. Ich finde es schön, wenn es solche guten Beispiele gibt. Die Städte lernen auch voneinander, aber es ist nicht immer möglich, politische Entscheidungen eins zu eins von einer Stadt in die andere zu übertragen. Wir müssen uns hier fragen, wie wir unsere Strukturen ändern sollten, damit Veränderungen schneller kommen können. Es bringt nichts, mit bloßen Wunschvorstellungen zu arbeiten und andere Städte zu glorifizieren.

Bei Umfragen schneiden die Grünen schlechter ab als früher. Hat das mit Ihrer Verkehrspolitik zu tun? Damit, dass viele autofahrende Berliner die Verkehrspolitik des Senats als autofeindlich einschätzen?
Wenn es an unserer Verkehrspolitik läge, dann hätten die Umfragewerte bei Grünen schon in den vergangenen Jahren sinken müssen.

Könnte das damit zu tun haben, dass die Bürger in zunehmendem Maße bei den Grünen eine Politik erkennen, die ihren Alltag verändern will?
Mein Eindruck ist ein anderer. Bei vielen Menschen ist angekommen, dass es Veränderungen geben muss. Sie wissen: Wenn wir nichts oder zu wenig gegen den Klimawandel unternehmen, werden die Folgen gravierender und chaotischer sein, als wenn wir geordnet und strukturiert vorgehen. Uns drohen Verwerfungen, die in Deutschland lange als undenkbar galten. Und sie erreichen uns schon: Das Hochwasser hat gezeigt, dass die Folgen der Erderhitzung nicht länger nur die Länder des Südens betreffen, sondern auch uns.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey im Herbst zur ersten Regierenden Bürgermeisterin von Berlin gekürt wird. Frau Giffey hat schon mehrmals deutlich gemacht, dass sie viele Forderungen zur Mobilitätswende nicht teilt. Droht ein Rückschlag?
Dafür sprechen leider viele Signale – und das merken auch immer mehr Menschen. Deshalb kämpfen wir als Grüne natürlich dafür, dass Bettina Jarasch Senatschefin wird.

Franziska Giffey befürchtet, dass Berlin zu einer Art Bullerbü wird, wenn die Mobilitätswende zu weit vorangetrieben wird. Halten Sie den Begriff für das, was Sie planen und unternehmen, für angemessen?
Wir wollen Vorsorge treffen für die Klimaveränderungen, die wir erwarten. Damit diese Stadt lebenswert bleibt. Wir wollen klimaschädliche Emissionen verringern und die Mobilität so organisieren, dass es möglichst keine Verkehrstoten oder -schwerverletzten mehr gibt. Und wir wollen die Flächen auf den Straßen gerechter verteilen. Warum solche Ziele mit dem Begriff Bullerbü diffamiert werden, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich würde sagen, dass es eine menschenfreundliche Politik ist.

Fänden Sie es richtig, die Ressorts Bauen / Stadtentwicklung und Umwelt/ Verkehr /Klimaschutz wieder zu einem Super-Ressort zusammenzufügen?
Ganz klar: nein. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung , wie sie bis 2016 unter SPD-Ägide bestand, war eine Mammutbehörde, in der alles außer Bauen kaum eine Rolle gespielt hat. Wenn Verkehr , Umwelt und Klimaschutz wie damals wieder untergepflügt würden, dann wäre das für Berlin eine Sackgasse: Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, wie es anders gehen sollte. Das Grün in der Stadt hat eine nie gekannte Relevanz, eine Verkehrswende gibt es in Berlin überhaupt erst seit 2017, Klimaschutz hat endlich die Bedeutung, die dem Thema zukommen muss.

Sie mussten sich Kritik anhören, dass Sie Ihren Dienstwagen, einen Tesla 3, auch privat nutzen. Haben Sie darauf reagiert?
Ich besitze seit fast 30 Jahren kein eigenes Auto mehr. Aber ich bin auch früher schon am Wochenende gelegentlich Auto gefahren, und zwar mit Carsharing oder Mietwagen. Nun bin ich im Rahmen der üblichen Amtsvereinbarung manchmal mit dem elektrischen Dienstwagen oder dem Dienstrad unterwegs. Ich habe meine Gewohnheiten also nicht verändert.

Würden Sie gern Senatorin bleiben?
Erst haben die Wählerinnen und Wähler am 26. September das Wort, dann gibt es politische Verhandlungen über eine neue Regierung. Wenn meine Partei mir dann noch einmal ihr Vertrauen schenkt, kann ich mir gut vorstellen, meine Arbeit fortzuführen.

Die Berliner Zeitung im Internet. www.berliner zeitung.de