Der Mietendeckel ist passé. Wo bleiben die neuen Häuser, die deutsche Städte brauchen?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18.04.2021 von Patrick Bernau

Berlin ist überall. Zum Beispiel in Konstanz am Bodensee, im beschaulichen Stadtteil Allmannsdorf, 5341 Einwohner. Dort will die Stadtverwaltung ein neues Baugebiet ausweisen, zur Hälfte sollen dort Sozialwohnungen entstehen - doch das Vorhaben wird von der dörflichen Bürgervereinigung ausgebremst. In Frankfurt soll das Gelände einer ehemaligen Gärtnerei bebaut werden. Seit fünf Jahren schon ist der Betrieb geschlossen, doch die Kommunalpolitiker im Stadtteil leisten so viel Widerstand, dass immer noch keine endgültige Planung steht. In Berlin ist die Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof schon vor Jahren komplett gescheitert. Dort haben die Berliner nun eine zusätzliche Grünfläche von der Größe des Central Parks gewonnen, das Vierfache des Münchener Olympiaparks - doch neue Wohnungen fehlen der Stadt immer noch.

Das wird sich an den Mieten bemerkbar machen, vor allem jetzt, wo das Bundesverfassungsgericht am Donnerstag den Berliner Mietendeckel für nichtig erklärt hat. Das Gericht hat festgestellt, dass das Land Berlin für die Gesetzgebung gar nicht zuständig war. Bis zur Frage, ob ein Mietendeckel generell verfassungsgemäß ist, sind die Richter gar nicht gekommen. Nun müssen sich viele Mieter auf Nachforderungen ihrer Vermieter einrichten. Die großen Wohnungskonzerne allerdings haben bereits Stundungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt oder auf Nachforderungen komplett verzichtet.

Was der Wegfall des Mietendeckels mit dem Wohnungsmarkt macht, ist schnell sichtbar geworden. Einerseits steigen die Mieten - andererseits wird der Wohnungsmarkt von mancher Nachfrage entlastet. Beispielsweise von der Sprecherin eines thüringischen Landesministeriums, die dienstrechtlich aus Berlin abkommandiert ist und sich ihre alte Wohnung dort als Zweitwohnung hält. Nach dem Urteil ärgerte sie sich auf Twitter darüber, dass sie sich ihr Berliner Domizil ohne den Mietendeckel nicht mehr leisten kann. So hat das Verfassungsgericht schon die erste Wohnung in Berlin zur Neuvermietung frei gemacht.

Darüber muss niemand spotten. Es ist einfach so: Wo Wohnungen günstig sind, wird viel nachgefragt. Immobilienbesitzer erzählen gern von ehemaligen Studenten, die in großen Städten einst in Sozialwohnungen gezogen sind. Inzwischen wohnen sie längst außerhalb, aber ihre billige Wohnung behalten sie, um am Wochenende gelegentlich in der Stadt zu übernachten. Es lässt sich nicht leugnen: Niedrige Preise steigern die Nachfrage.

Deshalb ist es kein Wunder, was Auswertungen der Immobilienportale zeigen: Seit Einführung des Mietendeckels waren einerseits die Wohnungsangebote zurückgegangen, das Interesse an den wenigen Wohnungen aber noch gewachsen. Auf solchen Märkten profitieren eher nicht die Armen, sondern die begüterten Leute, die in der langen Schlange der Wohnungsinteressenten besonders solide wirken und sich dank Mietendeckel noch mehr Quadratmeter leisten können als ohne.

Der Mietendeckel hat das Problem also nicht gelöst. Wie ist es entstanden? In kaum einer Metropole der Welt wuchs die Bevölkerung in den vergangenen Jahren so schnell wie in Berlin . Die Zuzügler gründen Start-ups, verwalten Deutschland aus der Hauptstadt heraus, und sie reparieren die Abwasserrohre. Viele kamen aus Osteuropa oder aus anderen Gegenden Deutschlands, Flüchtlinge spielten längst nicht die größte Rolle. Berlin also wuchs schnell, doch der Neubau blieb eher im unteren Mittelfeld. Das Bevölkerungswachstum wurde längst nicht ausgeglichen.

Gebraucht würden also neue Wohnungen. Und zwar in allen Preiskategorien. Sozialwohnungen sind wichtig, aber sie reichen nicht aus, denn sie helfen der Mittelschicht nicht. Nützlich sind sogar Luxuswohnungen, denn von ihnen profitieren nicht nur den Reichen, wie jüngst eine Analyse der Immobilienexperten von Empirica gezeigt hat. Sie werteten Studien über den sogenannten "Sickereffekt" von neugebauten Immobilien aus. Deutlich wurde: Egal, wie luxuriös die neue Immobilie ist, oft ziehen dort Einheimische ein, die ihrerseits eine Wohnung frei machen, und so weiter. Jeder einzelne Umzug verbessert die Wohnsituation der Betroffenen, und mit jedem weiteren Kettenglied werden die Profiteure jünger und ärmer. Die Forscher konnten diese Ketten nur begrenzt nachverfolgen, weil immer wieder Leute die Teilnahme an der Studie verweigerten - aber klar wurde: 100 neue Wohnungen konnten, je nach Marktsituation, mindestens 200 weitere Umzüge nach sich ziehen. So entlasten auch teurere neue Wohnungen den Mietmarkt für Geringverdiener.

Doch die neuen Wohnungen, sie wollen nicht entstehen. Berlin zeigt die Trends, die auch in anderen Städten wirken. Woran also liegt's?

Grund Nummer eins war zuletzt der Mietendeckel. Nicht nur das Gesetz selbst, sondern auch die Berliner Stimmung, in der so ein Gesetz beschlossen werden konnte und in der Demonstranten immer wieder die Enteignung von Wohnkonzernen forderten. In den 2010er Jahren hatte die Bautätigkeit in Berlin etwas zugelegt - doch die politische Lage überzeugte den einen oder anderen Wohnungskonzern zuletzt davon, dass er sein Geschäft eher außerhalb Berlins suchen muss.

Wo trotzdem gebaut werden soll, regt sich der Widerstand der Nachbarn - Grund Nummer zwei. Am Tempelhofer Feld wurde die Bebauung verhindert, und vom Widerstand gegen Baustellen kann so mancher Projektentwickler erzählen. In Berlin ist so ein Widerstand oft besonders wirksam, erzählt Reiner Braun, Chef der Immobilienberatung Empirica. Er vergleicht die Hauptstadt mit Hamburg, Deutschlands rühmlicher Ausnahme: Schon über das ganze vergangene Jahrzehnt sind dort jedes Jahr 10 000 neue Wohnungen entstanden, die große Mietsteigerung blieb an der Elbe aus. In Hamburg werden Planungen eher zentral beschlossen und durchgesetzt, sagt Braun. In Berlin haben die Bezirke mehr Mitbestimmungsrechte. Immer gibt es noch jemanden, der zustimmen muss. "Und wenn dann endlich der Bagger auf der Baustelle steht, kommt trotzdem noch irgendjemand und hält den Bau auf."

Auch in dieser Frage ist Berlin ein Spiegel Deutschlands - ein Zerrspiegel, in dem alles noch größer wirkt. "Wir kennen das aus vielen Gemeinden, die wir beraten", sagt Braun. "Die Diskussion ist überall die gleiche, mit dem Unterschied, dass in Berlin die Linken die Mehrheit haben." Eigentlich, so sieht es Braun, wollten viele Leute überhaupt keinen Neubau. Sie sähen, dass Neubauten teurer vermietet werden, und bekämen dann Angst, dass auch ihre Mieten steigen - ohne den Unterschied zwischen Alt- und Neubauten zu sehen. Wenn es nach den Einheimischen gehe, solle die Stadt sowieso am besten gar nicht wachsen. Sie hofften: Wenn man nicht baut , kommt keiner. Doch so funktioniert es nicht. Die Menschen kommen, die Mieten steigen. Werden die Mieten gedeckelt, kommen noch mehr Menschen. Dann ist der Ärger groß. In Berlin noch größer als anderswo. "Hier ist man angesichts der DDR-Vergangenheit besonders verwöhnt von niedrigen Mieten", sagt Braun.

Unrecht hat er nicht. Nach wie vor ist das Wohnen in Berlin (9,10 Euro je Quadratmeter) nicht nur billiger als in London, Barcelona und Paris, günstiger als in München und Frankfurt. Die Mieten in Berlin sind sogar geringer als in Galway (16,40 Euro), Krakau (11,50 Euro) und sogar in Lódz (9,30 Euro) - so hat es die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte ermittelt.

Doch die Berliner Politik trägt ihren Teil dazu bei, das zu ändern. Derzeit streitet die halbe Stadt über eine neue Bauordnung . Dazu muss man wissen: Das deutsche Bauwesen ist sowieso ausführlichst geregelt. Im Jahr 2018 zählte die Bundesregierung 3750 relevante Industrienormen, 600 mehr als ein Jahrzehnt zuvor. Doch wenn der Berliner Senat eine neue Bauordnung plant, dann geht es längst nicht nur um Vereinfachungen. In der Pandemie hat der Senat erst mal durchgesetzt, dass sich die Verwaltung mit den Genehmigungen mehr Zeit lassen darf. Im neuen Verfahren diskutiert der Senat über Solar-Pflichten, höhere Ansprüche an die Barrierefreiheit von Wohnungen und sogar über Nistkästen für Vögel.

All das steht schon eine Weile im Entwurf. Die Grünen aber setzen sich dafür ein, dass noch eine weitere Regel verschärft wird: Überall in Deutschland streitet die Partei dafür, dass Windräder näher an die vorhandene Bebauung heranrücken dürfen, damit es mehr Platz für Windenergie gibt. Für neue Wohnhäuser in Berlin aber soll nach dem Willen der Grünen künftig ein größeres Abstandsgebot gelten. Die Baulücke - nach diesem Plan soll sie sogar noch wachsen.

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