Schon länger ist der Klimaschutz eine Herausforderung für Städte. Jetzt kommen die Auswirkungen der Pandemie hinzu. Besonders in den Innenstädten ist die Lage angespannt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.04.2021 von Andreas Schiller

Mit den Einschränkungen durch Schließungen treten nicht nur aktuelle Schwierigkeiten auf, sondern auch schon länger bestehende Probleme zutage: Die Innenstädte bieten nicht mehr das, was sich viele von ihnen versprechen. Die Menschen wünschen sich attraktive Angebote - sei es im Handel, in der Gastronomie, aus der Kultur und anderes mehr. Wenn das fehlt, geht es woandershin - zumeist ins Internet. Genau diese Einnahmen brauchen aber Händler und Gastronomen, Dienstleister und Hoteliers, um in den Immobilien Umsätze zu erwirtschaften. Denn Mietzahlungen erwarten die Gebäudeeigentümer, die als institutionelle Investoren mitunter Renditeversprechen an ihre Anleger einlösen müssen. Viele Themen, Beteiligte und manchmal konträre Interessen treffen aufeinander.

Hinzu kommt, dass es weder die Stadt noch den Handel schlechthin gibt. Husum unterscheidet sich sehr von München, genauso das inhabergeführte Schreibwarengeschäft vom Modefilialisten, der Laden im Erdgeschoss vom Waren- oder Kaufhaus. Letztlich ist jede Situation individuell und manchmal auch widersprüchlich. Während Immobilienberater nach wie vor sehr wohl Neuvermietungen an Einzelhändler in den Zentren von Groß-, Mittel- und Kleinstädten verzeichnen, melden parallel andere Geschäftsinhaber Insolvenz an. Mancherorts stehen innerstädtische Ladengeschäfte sogar in besorgniserregendem Ausmaß leer.
Zwar ist es verständlich, dass Eigentümer so teuer wie möglich vermieten wollen, doch zeigt sich inzwischen auch, dass viele Kunden statt Ketten und Filialisten lokale Angebote und Dienstleister wünschen. Hierüber denken durchaus einige Immobilienentwickler und -eigentümer nach, aber auch bei den Stadtverantwortlichen gibt es Ideen und Versuche, steuernd einzugreifen - zum Teil schon seit vielen Jahren.

In Paris kauft bereits seit 2004 die Gesellschaft Semaest im Auftrag der Stadt freiwerdende Ladenflächen auf und vermietet sie vergünstigt an kleine lokale Händler und Dienstleister, die sich keine teure Miete leisten können. Das erzeugt in einzelnen Quartieren sowohl Flair als auch Frequenz, die wiederum weitere Händler anzieht. Zudem wird die Stadt so unabhängiger von globalen Unternehmen und stärkt gleichzeitig die lokale Wirtschaft. Für den Handel gehandelt wird in Frankreich aber nicht nur in der Hauptstadt. Die Regierung legte 2017 den Nationalen Aktionsplan Coeur de Ville, also Herz der Stadt, auf, der durch Mittel in Höhe von rund 5 Milliarden Euro die Zentren weiterer Kommunen wiederbeleben soll.

In Corona-Zeiten ergriff in Deutschland das Bundesland Nordrhein-Westfalen die Initiative. Dort hat das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung schon im Juli 2020 das "Sofortprogramm zur Stärkung unserer Innenstädte und Zentren in Nordrhein-Westfalen" auf den Weg gebracht. 70 Millionen Euro stehen zur Verfügung. 40 Millionen Euro davon flossen bereits an 129 Kommunen, für die verbleibenden 30 Millionen Euro wurde die Antragsfrist bis zum 30. April 2021 verlängert. Zum umfangreichen Förderprogramm gehört auch hier die vorübergehende Anmietung leerstehender Ladenlokale durch die Städte und Gemeinden, um neue Nutzungen im Rahmen eines Verfügungsfonds zu ermöglichen. Seit diesem Jahr folgt das Bundesland Rheinland-Pfalz mit dem Modellvorhaben "Innenstadt-Impulse" dem Anstoß aus Nordrhein-Westfalen nach. Individualität wird in beiden Programmen großgeschrieben.

Akteure der Immobilienwirtschaft sprechen häufig von Nutzungsmischung als Lösungsweg. City-Logistik und Logistik-Hubs in ehemaligen Warenhäusern spielen genauso eine Rolle wie verstärkt wieder innerstädtisches Wohnen. Auch gesundheitliche Nutzungen sind gefragt. Höchst unterschiedliche Beispiele gibt es viele, hier nur zwei: In der Innenstadt von München entwickelt Signa, der österreichische Eigentümer von Galeria Karstadt Kaufhof, die ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert stammende und daher denkmalgeschützte Alte Akademie, in der zuvor unter anderem das Bayerische Landesamt für Statistik untergebracht war. Stattdessen sollen nun Einzelhandel, Büros, Wohnungen und Gastronomie einziehen - übrigens mit Öffnung und Bewirtschaftung des bislang für die Öffentlichkeit unzugänglichen Schmuckhofs im Innenbereich. In Mülheim an der Ruhr hingegen widmet Commerz Real Flächen in ihrem Einkaufszentrum Forum Mülheim zu einem Forum Medikum für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen um. Arztpraxen gehören dazu. Eine gesundheitliche Umnutzung gibt es auch in Bergisch Gladbach. Dort ist in der Rhein-Berg-Galerie auf eine leerstehende Fläche, die zuvor ein Elektronikanbieter gemietet hatte, das örtliche Impfzentrum eingezogen. Ein Argument für die Unterbringung des Impfzentrums im Einkaufszentrum war die gute Erreichbarkeit: Bus- und S-Bahnhof liegen unmittelbar vor der Tür, Parkflächen sind im Gebäude vorhanden. Das wiederum führt zur Frage des Verkehrs in Innenstädten.
So sehr der öffentliche Personennahverkehr aus Gründen des Klimaschutzes forciert und der individuelle Autoverkehr möglichst reduziert werden soll, so sehr halten manche derzeit sicherheitshalber auch Abstand zu Bus und Bahn. Werden die Innenstädte nur noch Fußgänger und allenfalls Radfahrer sehen? Oder ist das Auto, am besten jedoch in der E-Version, wieder mehr gefragt? Bedeutet die Einschränkung des Autoverkehrs ein weiteres Problem für den Handel, oder bieten sich neue Chancen? Auch hier gehen die Meinungen auseinander. Doch sei daran erinnert, dass sich die Top-Lagen für den Handel zumeist in den Fußgängerzonen befinden und ebendort nach wie vor auch neu entstehen. Im Unterschied zu Straßen mit engen Bürgersteigen und Parkplätzen bieten Fußgängerzonen, so denn der Feuerwehr die Zufahrt möglich bleibt, zudem Außenflächen für die Gastronomie. Das ist genau die Nutzung, die zwar aktuell besonders, aber auch generell gefragt ist und auch manchem zwar autofreien, aber ohne Flair vorhandenen gepflasterten innerstädtischen Platz mehr Frequenz bringen würde.

Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, sagt: "Weniger Verkehrsbelastung, Lärm und Abgase zu reduzieren machen städtische Räume für die Menschen lebenswerter und attraktiver." Zu Gebäuden merkt er an: "Nicht jede leerstehende Immobilie hat das Potential für neue Nutzungsmöglichkeiten. Aber wir müssen uns trauen, Neues auszuprobieren. Die Option Abriss oder Rückbau ist sicher auch mitzudenken." Bei vielen möglichen Optionen braucht es Orientierung - und vielleicht auch ein Stück Mut. Tobias Just, Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Leiter der Irebs Immobilienakademie, erinnert an erfolgreiche Handelsformate der Vergangenheit: "Das Warenhaus ließ die Menschen staunen, und gleichzeitig reduzierte es Suchkosten. Der Discounter ließ die Menschen vor allem Geld sparen, und das Einkaufszentrum ermöglichte eine Mischung aus Zeitersparnis und Erlebnis. Auch hier wurden mit dem Neuen alte Strukturen zerstört - und die Welt drehte sich doch weiter." Bei neuen Konzepten für Innenstädte sind jetzt wohl einige Aspekte dieser alten Strukturen wieder gefragt, zweifelsfrei jedoch die Kooperation von Immobilienwirtschaft, Handel und Gastronomie sowie öffentlicher Hand.

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