Das Berliner Provisorium „Autofreie Friedrichstraße“ ist missglückt, meinen viele. Wie kommt Leben in den kalten Korridor? Einige Vorschläge
Berliner Zeitung vom 19.01.2021 - von Wolf Eisentraut

Muss man eine ganze Straße sperren, um einer Senatorin dort das Kaffeetrinken zu ermöglichen? Dabei ist es in keiner Weise erstrebenswert, auf grob gezimmerten Sitzpodesten zwischen Holzfässern mit Spitzahornbäumchen und neben breiter Fahrradpiste auszuharren. „Flaniermeile“ ist an Plakataufstellern zu lesen. So stellt sich die Friedrichstraße zwischen Französischer und Leipziger Straße dar, die gegenwärtig als Modellversuch für Kraftfahrzeuge gesperrt ist.

Ein kläglicher Versuch, denn der scheinbar gewonnene Stadtraum ist von Podesten, Vitrinen und Schautafeln verstellt, und eine breite Radfahrbahn ersetzt die Autofahrbahn – mit nicht minder abweisender Wirkung. Die Flanierenden, soweit es diese gibt, bleiben auf den ohnehin viel zu schmalen Gehsteigen gefangen. Vielleicht hat man hier falsche Prioritäten gesetzt.

In der Vorweihnachtszeit waren zusätzliche Verkaufsbuden aufgestellt worden, die Gehsteige flankierend. Also noch enger. Von Weltstadtflair keine Spur. Nun ist kaum anzunehmen, dass jemand nach dem Erwerb eines teuren Chronometers oder glitzernder Brillanten aus dem Luxusgeschäft anschließend vor der Holzbude eine Bratwurst verzehrt. Gewiss ist die Inszenierung falscher Beschaulichkeit von dem guten Willen getragen, das der Friedrichstraße innewohnende städtebaulich-funktionelle Problem zu lösen. Die Mühe ist vergebens, es wird kein Leben einkehren.

„Die pikanteste Verkehrsader“
Dabei kann man auf eine andere Geschichte zurückblicken, vor allem auf die Zwanziger mit pulsierendem Leben zwischen Geschäften, Cafés und Restaurants sowie sonstigen Etablissements. Gemalte Straßenszenen von Ernst Ludwig Kirchner und anderen geben Zeugnis von Geschäftigkeit und Amüsement. Aber vielleicht wird die Zeit, die in die Weltwirtschaftskrise mündete und letztlich durch die Naziherrschaft abrupt beendet worden ist, in der Rückschau etwas verklärt.

Die Friedrichstraße war ursprünglich als Gleiche unter Gleichen Bestandteil eines streng rektangulären Straßenrasters der ab 1688 erschlossenen und bebauten Friedrichstadt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Straße einen außerordentlichen Bedeutungsgewinn, indem der Bahnhof Friedrichstraße als Kern der Stadtentwicklung wirkte. Die Friedrichstraße gewann gegenüber den anderen Straßen der Friedrichstadt Wichtigkeit und neuen Inhalt, weil sie gleichsam die Funktion einer Bahnhofstraße übernahm. Theodor Fontane sah hier „die pikanteste Verkehrsader“, was immer er gemeint haben mag.

Später trug die Untergrundbahn zur besten Erreichbarkeit bei, die letztlich den Nährboden für die Ansiedlung von Geschäften, Restaurants und Vergnügungseinrichtungen bot. Die wenigen verbliebenen stattlichen und reich geschmückten Gründerzeitbauten zeugen vom Aufschwung dieser Zeit. Die „Friedrichstraße“ wurde zum Symbol des städtischen Lebens der aufstrebenden Metropole. Nach der Gründung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin 1920 entfaltete sie gesamtstädtische Ausstrahlung und behauptete sich gegen das damals neue Zentrum West um den Kurfürstendamm.

Nach der 1990 wiedergewonnenen Einheit der Stadt fielen vielerlei stadtplanerische Überlegungen der Hektik des Wiederaufbaus zum Opfer. So auch die infolge der Kriegszerstörungen entstandene Chance, die Friedrichstraße unter Respektierung und Beibehaltung des historischen Straßennetzes hervorzuheben und mit einem großzügigeren Raumprofil zu bereichern.
Solche Gedanken verfolgten im Verlauf des 20. Jahrhunderts Stadtplaner immer wieder, so bereits 1910 im Wettbewerb Groß-Berlin, 1957 in einem von der Bundesregierung und West-Berlin initiierten gesamtdeutschen Wettbewerb (nicht ohne massiven Protest der DDR-Regierung), 1961 im Ost-Berliner Plan zum Aufbau des Stadtzentrums. Schließlich begann um 1985 der Wiederaufbau.
Das Konzept sah eine partielle Aufweitung des Straßenraumes vor. Bereits um 1960 waren das Hotel unter den Linden und das „Blaues Wunder“ genannte Lindencorso diesem Prinzip gefolgt, sodass städtische Plätze entstanden. Der eine mit einer schattenspendenden Baumgruppe und dem Pavillon Nowosti, der andere mit besonnter Kaffeeterrasse, Blumenrabatten und Wasserspielen. Alte Ost-Berliner werden sich erinnern. Das „Espresso“ im Lindencorso war so beliebt, dass sich Mitarbeiter der Institute aus demselben Haus tagsüber dort aufhielten – im „Espresso-Office“ ihrer Zeit voraus.

Die weitere Neubebauung der Friedrichstraße sollte unter Einbeziehung der wenigen Bestandsgebäude in ähnlicher Form, im Wechsel von engen und platzartigen Abschnitten erfolgen. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wollte die schönste Straße der Hauptstadt. Das wurde nicht mehr geschafft.
Auch die Akteure der neuen Zeit bewiesen keine glückliche Hand. Nach 1990 erfolgte der Aufbau Ost zunächst als Abriss Ost, in der Friedrichstraße speziell mit dem Abtrag eines großen, beinahe fertiggestellten Kaufhauskomplexes, von dem wohl nur die sonderbare Fassade in Erinnerung bleibt. Neue Planungen folgten neuen Prämissen. Nicht mehr das Leitbild der repräsentativen sozialistischen Stadt, für das Grundstücksgrenzen und Baulandpreise keine Rolle spielten, sondern alte Baufluchten und Parzellengliederung avancierten zum neuen Planungsdogma. Weil aber die ökonomischen Belange dominierten, wurde dieses an die Historie der Stadt anknüpfende Bebauungsprinzip nicht durchgehalten.

Auf massiven Vermarktungsdruck hin wurden über die Parzellen hinweg quartiersgroße Baufelder gebildet, verkauft und bebaut. Anstelle von bisher 13 Parzellen gibt es nun drei große Gebäude entlang der Straße. Die beabsichtigte Kleinteiligkeit und Maßstäblichkeit ging verloren, nur die Baufluchtlinie blieb. Immerhin, mit den durch Glas, Erker und Quadrat geprägten Fassaden kamen internationale Architektursprachen zur Wirkung. Aber die neue Dimension der großen Baublöcke – jeweils ein großes Gebäude besetzt als Monolith ein ganzes Quartier – verträgt sich nicht mit der auf Kleinteiligkeit beruhenden Bauflucht und Straßenbreite. Das erklärt die merkwürdig kalte und unbelebte Anmutung dieser Korridorstraße.
Die drei Quartiere sind mit einer Passage verknüpft. Im Allgemeinen verbinden Passagen unterschiedliche Stadträume und gewinnen daraus ihre Besucherfrequenz. So ist es in Hamburg mit seinen vielen Passagen, so ist es in Mailand mit der Galleria Vittorio Emanuele, der Mutter der großen Passagen, einer hohen, glasüberdachten hellen Halle.

Nicht so in Berlins Friedrichstraße, hier läuft die Passage unterirdisch parallel zur Straße, ohne Anfang und ohne Ziel. Dieses Nebeneinander teilt die Besucherströme; Passage und Straße nehmen sich gegenseitig die Kraft. Ohnehin ist diese Passage nur ein Surrogat der großen Form: zu niedrig, zu dunkel, zu eng. Gruselig angesichts fehlenden Lebens. Da helfen die zur kalten Pracht verbauten edlen Materialien nicht.

Das Flanieren im Keller widerspricht wohl auch den Erwartungen der Reichen und Schönen, die hier einkaufen sollen. Diese pflegen sonst in den Untergeschossen ihre SUVs abzustellen, aber mit dem Auto sollen sie ja nun nicht mehr hinfahren. Einzige Frequenzbringer dieser Unterwelt sind zwei Lebensmittelmärkte. Ansonsten entwickelt diese Passage eine Parallelwelt, ohne ein besonderes Angebot zu machen. Obendrein verweigern die vorwiegend nach innen entwickelten Erdgeschosse der Straßenfront Vielfalt und Attraktivität. Im Übrigen wohnt in diesen Häusern wohl auch keiner – ein weiterer dem Stadtleben abträglicher Faktor.

Man wollte großstädtisch sein und konnte es nicht. Vielerorts haben die Altstädte durch Herausnahme des Fahrverkehrs an Lebens- und Erlebensqualität gewonnen. Manchmal sind sie aber auch zu spießiger Idylle verkommen.

Dynamik des Radwegs
Jedenfalls ist es mit isolierter Betrachtung und Aktionismus nicht getan, ebenso wenig wie Sperrgitter und billige Stadtmöbel weltstädtisches Flair erzeugen. Greift man in eine jahrhundertealte Stadtstruktur ein, will das wohlüberlegt sein. So ist der Verkehrsfluss für Anlieferung und Besuch zu sichern, sonst gibt es nur eine Verlagerung und umweltbelastenden Stau. In erster Linie aber muss erkannt werden, dass es nicht um die einfache Umnutzung einer Straße, sondern um nicht weniger als die Neugestaltung eines städtischen Raumes geht. Da solcher von Gebäuden definiert ist, kommt man nicht umhin, auch die Erdgeschosse und deren Inhalte zu verändern. Das Konzept des gehobenen Handels allein trägt hier offensichtlich nicht weit. Es fehlen kleinteilige und vielfältige Einheiten.

Zur Straße geöffnete Cafés und Restaurants sowie Kneipen sind das eine, Galerien, Clubs und Kulturstätten sind das weitere. Vielleicht könnten ein kleines Kino oder ebensolche Theaterbühne Raum finden, sodass nicht alleine das Russische Haus Abendbesucher anziehen muss. Damit können aber die kalkulierten Mieterwartungen nicht erfüllt werden, lieber leistet man sich Leerstand. Kolonnadenartig zurückgesetzte Erdgeschossfronten könnten das Flanieren fördern, anders als Verkaufsbuden.
Man kann auch nicht den Abschnitt zwischen Französischer und Leipziger Straße allein betrachten: Die Friedrichstraße erstreckt sich als Ganze zwischen Oranienburger und Halleschem Tor! Vor dem Mehringplatz erleidet sie schon vorstädtischen Charakter, während im Verlauf der Straße historisch aufgeladene Orte wie die ehemalige Grenze mit dem Checkpoint, der Bahnhof Friedrichstraße mit dem Grenzübergang, die Spreebrücke mit dem preußischen Adler die Geschichte mit der Gegenwart verbinden.
Die Straße ruft nach einem Entwicklungsprogramm, das die Ressortinteressen des Verkehrs mit denen der Wirtschaft und Stadtentwicklung vereint und die Investoren zum gegenseitigen Vorteil einbezieht. Mit den herkömmlichen Mitteln der Städtebauförderung und Quartiersaufwertung mittels neuen Betonpflasters ist es nicht getan.

Will man sich für eine verkehrsfreie Straße entscheiden, muss diese wirklich verkehrsfrei, also auch fahrradverkehrsfrei sein. Der Versuch in der Friedrichstraße zeigt, dass die einseitige Bevorzugung eines Verkehrsmittels keinerlei Aufenthaltsqualität zulässt. Ungestörtes Flanieren, also zielloses Umherlaufen, in Schaufenster nach links und rechts schauen, spontanes Verweilen, aber auch geschäftiges Treiben – all das wird durch die dem Radweg innewohnende Dynamik gestört. Die gewollte Entschleunigung wird konterkariert.

Es gilt, den menschlichen Maßstab zu finden, sowohl in den Längen der Geschäftsfronten als auch in der Geschwindigkeit des Gehens. Die mittig und breit angelegte, den Stadtraum dominierende Fahrradpiste verweist sowohl visuell als auch in ihrer Benutzung auf das Gegenteil.

Am Ende drängt sich der Verdacht auf, dass es bei dem missglückten Provisorium gar nicht um die stadträumliche Qualität, nicht um den ältesten und wichtigsten Verkehrsteilnehmer, den fußgehenden Menschen geht, sondern dass womöglich nur eine bequeme und störungsfreie Fahrradtrasse geschaffen werden sollte. Das wird der Bedeutung der Friedrichstraße und ihrer Geschichte nicht gerecht. War es einst ein zeitbedingter, aber verhängnisvoller Irrtum, eine autogerechte Stadt zu gestalten, ist es ebenso einseitig, heute eine „Fahrradstadt“ zu propagieren. Für wen sind denn die Städte gebaut? Nicht für die Fortbewegungsapparate, sondern für die Menschen. Also muss Berlin eine Menschenstadt sein.

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