Vor fünfzig Jahren erschien Wolf Jobst Siedlers Buch "Die gemordete Stadt". Es war die einflussreichste Architekturpublikation der deutschen Nachkriegszeit und ist bis heute hochaktuell.
Die Welt vom 13. März. 2014, Von Rainer Haubrich

Im Jahre 1963 wähnte sich West-Berlin architektonisch auf der Höhe der Zeit. Mit der Philharmonie von Hans Scharoun wurde das erste Bauwerk des geplanten Kulturforums eröffnet, der einflussreiche Architekt gewann den Wettbewerb zur Neugestaltung des kreisrunden Belle-Alliance-Platzes in Kreuzberg als Mehringplatz, und im Norden der Stadt begann man mit dem Bau des Märkischen Viertels.

 

Im gleichen Jahr erschien aber auch Jane Jacobs' "The Death and Life of Great American Cities" auf Deutsch, eine der ersten Abrechnungen mit dem Städtebau der Moderne. Die New Yorker Kritikerin präsentierte eine umfassende Analyse all der Fehler, die bei der städtebaulichen Modernisierung Manhattans in den Fünfzigerjahren gemacht worden waren, und plädierte für traditionelle, verdichtete Stadtviertel mit einer Mischung unterschiedlichster Nutzungen.

In Deutschland aber entfaltete wenig später ein anderes Buch eine viel größere Wirkung. Es erschien im März des Jahres 1964, Autor war der damals 38-jährige Berliner Journalist Wolf Jobst Siedler , und der Titel las sich wie eine Anklage: "Die gemordete Stadt". Es war ein ironisch-melancholischer "Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum", wie es im Untertitel hieß.

Bestseller weit über Berlin hinaus
In pointierten Texten feierte Siedler die Schönheit und Vitalität der gründerzeitlichen Quartiere und mokierte sich über die Banalität der leblosen Neubausiedlungen. Er beklagte "das Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserzeitlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte". Wie er später erzählte, hatten ihm auch seine Besuche in anderen europäischen Metropolen die Augen geöffnet: "Ich sah damals, wie das Leben in Rom, Paris oder London funktionierte, wie voll dort die Straßen und Cafés waren. Dann ging ich durch die Neubaugebiete Berlins. Alles war leer."

Das Buch wurde ein Bestseller weit über Berlin hinaus – und die wohl einflussreichste Architekturpublikation der Nachkriegszeit in Deutschland. "Die gemordete Stadt" bereitete überall im Lande den Weg für die Wiederentdeckung großstädtischer Bautraditionen Ende der Siebzigerjahre. Und noch beim Wiederaufbau Berlins nach dem Fall der Mauer war ihr Geist zu spüren: Die Protagonisten der damaligen Baupolitik hatten alle "ihren" Siedler verinnerlicht.

Der Erfolg der "Gemordeten Stadt" beruhte nicht in erster Linie auf Siedlers geschliffenen Essays, die zuvor bereits im Feuilleton des Berliner "Tagesspiegels" erschienen waren, das Siedler damals leitete. Es waren auch nicht die kurzen Texte aus der Blütezeit städtischer Kultur oder die unfreiwillig komischen Zitate aus den Broschüren der Baubürokraten, die er neben Fotos besonders öder Neubauten platziert hatte.

"Dieser Gegenangriff war fällig"
Noch deutlicher als alle diese Worte sprachen die Fotografien von Elisabeth Niggemeyer , in denen das Dekor der überlieferten Stadt gegen die karge, ausgenüchterte Nachkriegsmoderne ausgespielt wurde. Das Ergebnis war vernichtend. Hier die belebten, oft baumbestandenen Straßenfluchten der Gründerzeit, dort die Ödnis vorstädtischer Siedlungen mit ihrem "Abstandsgrün". Hier die klassischen Fassaden mit reichverzierten Fenstern und Portalen, dort die kahlen Hausfronten mit Fensteröffnungen wie Schießscharten und kümmerlichen Eingangstüren. Hier der milde Schein der Straßenlaternen, dort das gleißende Licht der Peitschenleuchten.

Die Tagespresse erkannte sofort die Sprengkraft des kartonierten Bandes, und die Zustimmung überwog. Siedler habe zum Bewusstsein gebracht, "was sicherlich viele irgendwie verspüren, aber sich selbst nicht recht einzugestehen wagen", bemerkte ein Rezensent von "Christ und Welt". "Dieser Gegenangriff war fällig", stellte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fest und sagte voraus, dass "die Festung der modernen Architektur im Sturm genommen wird". Die Süddeutsche Zeitung berichtete von einem "aufrührenden Bilderbuch", fragte aber besorgt, ob nicht "gerade die applaudieren werden, die schon immer gewusst haben, dass mit der ganzen Moderne nichts los war"?

Das befürchteten wohl auch die meisten Architekten und Stadtplaner. Man war empört. Wie konnte Siedler die "unmenschlichen" Hinterhöfe verklären, wie konnte er die stilistischen Auswüchse des Wilhelminismus verteidigen, all das also, wogegen die Moderne mit ihren reinen, klaren, hellen, lichten, durchgrünten Wohnsiedlungen angetreten war?

Aus dem Werkbund trat Siedler aus
Siedlers Kritik entwickelte auch deshalb eine große Wirkung, weil er – was heute kaum noch bekannt ist – über viele Jahre den Wiederaufbau in West-Berlin journalistisch gefeiert hatte. Er wurde keineswegs als architektonischer Reaktionär geboren, ganz im Gegenteil, als Jugendlicher begeisterte er sich für die Heroen der Moderne. Beim "Tagesspiegel" hatte er zur Interbau 1957 eine achtseitige Sonderbeilage gestaltet, auf deren Titelseite er das neue Hansaviertel lobte, weil es zeige, "wie man ein zerbombtes Großstadtviertel mit Hinterhöfen und lichtlosen Seitenflügeln nach neuen Gesichtspunkten aufbauen kann".

Und das im selben Jahr, in dem die Berliner Bevölkerung erstmals erfolgreich ihren Unmut über den Wiederaufbau artikulierte: Sie verhinderte den Abriss der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Noch vier Jahre danach startete Siedler für das Feuilleton des "Tagesspiegels" sogar eine monatlich erscheinende Artikelserie "Vorbildliches im Berliner Stadtbild", in der er versuchte, unter Berufung auf die fachliche Autorität Hans Scharouns einen "Kanon" der modernen Architektur des West-Berliner Wiederaufbaus zu präsentieren.

Schon in diesen Artikeln hatte Siedler hier und da kritische Töne angeschlagen. Mit Erscheinen seines Buches aber wurde offenbar, dass er endgültig vom "wahren Glauben" an die Moderne abgefallen war. Der Werkbund, dessen Vorstand der Journalist angehörte, drohte den Ketzer auszuschließen – worauf dieser freiwillig ging. Aus dem Planungsbeirat des Landes Berlin war Siedler bereits ausgetreten, als ihm bewusst wurde, wie verhängnisvoll die Baupolitik der Stadt war.

Sterile Zeilenbauten oder Wohngebirge

Siedlers "Gemordete Stadt" erlebte in kurzer Zeit mehrere Auflagen, doch in der Berliner Baupolitik änderte sich nicht allzu viel. Einige der schlimmsten Bausünden standen noch bevor, etwa die Kahlschlagspolitik, bei der intakte Altbauviertel abgerissen und durch sterile Zeilenbauten oder Wohngebirge ersetzt wurden. Das alles bestätigte Siedlers Thesen aus der "Gemordeten Stadt" so nachhaltig, dass das Buch im Jahre 1979 wiederum eine viel beachtete Neuausgabe erlebte. Kontroversen löste es nicht mehr aus, Siedlers – nach eigenen Worten – "reaktionärer Frohmut" von 1964 war mehrheitsfähig geworden.

Man warf Siedler immer wieder vor, er führe zwar beredt Klage, nenne aber keine Alternativen. Doch schon die Erstausgabe seines Buches enthielt eine Perspektive, eine Hoffnung: die "Imagination von Städten, die mit neuen Mitteln alte Wohnfiguren verwirklichen". Das wurde bei der IBA Mitte der Achtzigerjahre erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in Berlin wieder versucht. Siedler verfolgte sie aus der Nähe und gestaltete sie mit – diesmal nicht als Kritiker, sondern als Berater. Aber letztlich hielt er die Ergebnisse der damaligen bunten, verspielten Postmoderne in ihrer Mehrheit nicht wirklich für gelungen.

Nach dem Fall der Mauer verfolgte er mit Sympathie, wie der Senatsbaudirektor Hans Stimmann darauf bestand, nicht wieder den jüngsten Trends zeitgenössischer Architektur hinterherzujagen, sondern die Brachen der einst geteilten Stadt auf dem historischen Grundriss wieder mit ensemblefähiger, großstädtischer Substanz zu füllen.

Vom Gefühl eines großen Verlustes

Und Siedler stritt leidenschaftlich für die äußerliche Rekonstruktion des Berliner Schlosses, dessen Ruine die DDR-Machthaber 1950 ebenfalls "gemordet" hatten. "Das Original lässt sich niemals wiedergewinnen, und wenn man tausend Einzelteile findet, die man in den Neubau einfügt", schrieb er in seinem wegweisenden Essay von 1991, "aber es gibt keine andere Möglichkeit, die Stadt als Stadt zu retten, und deshalb wird man nicht triumphierend, sondern resignierend das Verlorene mit Abschiedsschmerz wiederherstellen müssen".

1993 ist "Die gemordete Stadt" zuletzt neu aufgelegt worden. Der von einem Schlaganfall damals schon geschwächte Autor hat das Buch nie fortgeschrieben, im vergangenen Herbst starb er im Alter von 87 Jahren. Wie fiele der Vergleich aus, würde man heute den Fotos der neuesten Gebäude in deutschen Innenstädten wiederum die Bilder der Gründerzeit gegenüberstellen? Sicher: Die Struktur der Stadt des 19. Jahrhunderts wird wieder geschätzt, sie dient vielerorts als Vorbild für Ergänzungen und neue Ensembles. Selbst die Qualität ruhiger Innenhöfe wird wiederentdeckt. Wo aber tragen Neubauten zu dem von Siedler beschworenen "emotionalen Stadterlebnis" bei? Wo findet sich gelungener Bauschmuck, wo dezentes Ornament?

Es ist eine bittere Erkenntnis, dass wir dieses Gefühl eines großen Verlustes, über das Siedler vor fünfzig Jahren schrieb, noch immer kennen. Deshalb zieht es bis heute die meisten Stadtbürger, einschließlich der Architekten, in jene Altbau-Quartiere, denen Siedler in seiner "Gemordeten Stadt" ein unvergleichliches Denkmal gesetzt hat.

Die Welt im Internet: www.welt.de