Was ein Stein über das Berliner Handwerk verrät
Tagesspiegel vom 06.03.2024 von Rolf Brockschmit

Was macht ein Dromedar in einem Brunnen? Dies mag sich Eberhard Völker gefragt haben, als er im Juni 2021 beim Abtragen eines verfüllten Brunnens aus dem 18. Jahrhundert in Berlins historischer Mitte auf eckige Schiefertafeln stieß. Auf einer von ihnen war das Tier in feinen Linien eingraviert. Als der wissenschaftliche Projektleiter der Grabung Molkenmarkt die Objekte aus dem Schutt barg, stellte sich heraus, dass es sich um Gussformen für Zinnfiguren handelte – aus künstlerisch bearbeitetem Naturstein.

Deutlich sind auf der Dromedar-Gussform, von der die eine Hälfte gefunden wurde, der Gusskanal und die Passzapfen zu erkennen, die die beiden Formhälften am Verrutschen hindern. Die Formen vom Molkenmarkt weichen deutlich vom üblichen Standardmaß für das Spielzeug von 28 bis 30 Millimeter ab, die größte Berliner Figur misst 100 Millimeter. Völker vermutet, dass es sich hier um Auftragsarbeiten handelte. Eine Form trägt sogar das Datum 1878.

Das Motiv wurde auf die flach geschliffene Tafel mit einer Reißnadel gezeichnet und dann mit einem Stichel eingraviert. Die zweite Platte wurde darauf gelegt und dann zweimal diagonal versetzt durchbohrt und mit Blei ausgegossen. So entstanden die Passzapfen. Die gravierte Platte wurde anschließend gerußt. So konnten die Umrisse auf die zweite Platte übertragen werden, um sie dann ebenfalls zu gravieren.

Ein bedeutender Fund

„Gussformen waren das Kapital einer jeden Zinngießerei. Wenn sie nach häufiger Benutzung und Überarbeitung den Qualitätsanforderungen nicht mehr genügten, hat man sie weggeworfen“, erzählt Völker. Ein Glücksfall für die Archäologen, denn diese Formen verraten einiges über Zeitgeschmack, Gesellschaftsbilder und Gewerbeentwicklung.

70 Formen und Formfragmente wurden entdeckt – ein so bedeutender Fund, dass sechs Formen bis zum 18. August 2024 in einer Sonderausstellung „Modern Times – Archäologische Funde der Moderne und ihre Geschichten“ im LWL-Landesmuseum für Archäologie und Kultur in Herne ausgestellt sind.

Der Grabung am Molkenmarkt ging ein intensives Aktenstudium voraus, erzählt Eberhard Völker. „Wir wussten durch dieses Aktenstudium, dass sich in der ehemaligen Jüdenstraße 49 am Großen Jüdenhof die Werkstatt des ‚Zinn- und Bleiwarenfabrikanten‘ L. Böhler befunden hatte, allerdings haben wir mit diesem Fund nicht gerechnet.“ Bei der Geschäftsaufgabe 1922 wurden die Gussformen der Firma Böhler ebenso wie die recycelten Rohstoffe verkauft.

Aber wie kamen die Schieferformen in den Brunnen? Die Erklärung dafür führt bis ins 18. Jahrhundert zurück. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts begann man in der Mitte Berlins aus Brandschutzgründen Häuser aus Stein zu bauen . Die oberirdische Bebauung ist heute meist verschwunden, aber die Keller sind oft im Original erhalten. Die Häuser hatten damals einen Innenhof, in dem Brunnen zur Wasserversorgung standen.

Schätze im Abfall

Als Berlin ab 1871 die zentrale Trinkwasserversorgung mit Bleirohren einführte, wurden die Brunnen überflüssig. „Unser Brunnen war wohl bis 1880 in Betrieb, aber dann wurde er als Abfallgrube genutzt“, sagt Völker. Funktionslos wurden diese dann mit Abfällen verfüllt. Daher sind sie – ebenso wie Latrinengruben – so wertvolle Orte. Keller wurden spätestens 1945 auf der Suche nach Brauchbarem leergeräumt.

Die Brunnen sind somit eine wahre Zeitkapsel und so erkläre sich auch die hohe Fundzahl von inzwischen über 500.000 Objekten, seit das Landesdenkmalamt Berlin 2019 mit den Grabungen am Molkenmarkt zur Bauvorbereitung begonnen hat. Da noch weitere 7500 Quadratmeter noch unter der Grunerstraße liegen, wird auch noch mehr gefunden werden, ist sich Völker sicher.

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