240112 langeweile staedtebau 1FAZ vom 12.01.2024 von Benedikt Goebel und Wolfgang Maennig

Foto 1: Mit Wucht: In Berlin trifft Altes auf Neues und hält sich dabei nicht an die architektonischen Gepflogenheiten.

Moderne Architektur erscheint zu oft kalt und uniform. Dabei ist die Schönheit eines Hauses wichtig für den dauerhaften Erhalt. Es wird Zeit für eine Rebellion.

Als die Präsidentin der Berliner Architektenkammer bei einer Diskussion im Juni 2023 gefragt wurde, ob sie einen seit der Wende neu geschaffenen Berliner Stadtplatz kenne, an dem die Menschen sich gerne aufhielten, musste sie passen. Sie ist nicht die Einzige, der es so geht: Viele Menschen haben das Vertrauen in den modernen Städtebau und die moderne Architektur verloren – sie erscheinen ihnen langweilig, ja sogar uniform und kalt.

Es ist beklagenswert, dass Stadtteile und Plätze, in denen Nachkriegsarchitektur dominiert, als unattraktiv wahrgenommen werden. Beispiele für städtebaulich und architektonisch gelungene Stadträume der Nachkriegszeit sind rar.

Die in der Nachkriegs- und Nachwendezeit neu gestalteten Stadträume der Berliner Innenstadt Alexanderplatz, Kulturforum und Potsdamer Platz sind offensichtlich Teil des Problems, nicht der Lösung.

240112 langeweile staedtebau 2Foto 2: Eintönigkeit vom Reißbrett: Im Frankfurter Europaviertel gleichen sich die Häuser wie ein Ei dem anderen.

Wenn man Stadtplaner und Architekten danach fragt, was städtebauliche und architektonische Qualität sei, wird von ihnen „Nachhaltigkeit“ hochgehalten. Mit ihr werden zumeist drei Dimensionen verbunden: Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit. Die ökologische Dimension zielt auf einen geringen Ressourcenverbrauch im Bau und Betrieb einer Immobilie (neuerdings kommt auch die Recyclingfähigkeit beim Abbruch in Ansatz), und die ökonomische Dimension fordert eine langfristige Finanzierbarkeit samt Anpassbarkeit und Umnutzbarkeit, beispielsweise von Gewerbe- in Wohnflächen. Die dritte, soziale Dimension wird stets im Sinne von für einkommensschwächere Schichten erschwinglich gedacht.

Etwas fehlt in diesem Kanon: Die Ästhetik und Schönheit als vierte Dimension geht seit einigen Jahren als steinerner Gast umher in Städtebau und Architektur und verbreitet unter den zuständigen Disziplinen und Behörden Angst und Schrecken – sie war zumeist nicht Teil der Ausbildung. Die Frage der Außenwirkung der Architektur, also der Fähigkeit, in ihrem Umfeld Aufenthaltsqualität nicht nur für die Bewohner, sondern auch für Besucher zu schaffen, scheint für die heutige Architektengeneration von untergeordneter Bedeutung – sicherlich auch, weil die Bauherren vor allem an der Vermarktbarkeit der Immobilien interessiert sind.

Die vierte Dimension der Nachhaltigkeit eines Hauses, seine dauerhafte Schönheit, ist zudem nicht nur wichtig für die Aufenthaltsqualität in seiner Nachbarschaft, sondern auch für seinen dauerhaften Erhalt. Denn zahlreich sind mittlerweile die Beispiele für Abrisse von als gemeinhin hässlich angesehenen Neubauten nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Errichtung.

240112 langeweile staedtebau 3Foto 3: Mehr als graue Wände: Ein Neubauprojekt in Rüsselsheim.

In der Tat: Nachhaltig sind heute vor allem die Quartiere, die durch Altbauten aus der Zeit vor 1945 geprägt werden. In diesen Gebieten dominieren in Berlin eine kleinteilige Bebauung mit Hausbreiten und Haushöhen von maximal 21 Metern, unterschiedlich strukturierte Fassaden, oft noch mit Stuck, Fenster mit Fensterkreuzen, unterschiedliche Farbgebungen, vielfältige Dienstleistungsangebote im Erdgeschoss, weithin erkennbare Eingangsbereiche und aufwendig strukturierte Türen – oft treten Straßenbegrünung, breite Gehwege und ein verträgliches Maß an Autoverkehr hinzu.

240112 langeweile staedtebau 4Foto 4: Unsaniert, aber sexy: Ein Altbau in Berlin

Der Amerikaner Kevin Lynch (1918–1984) hat in den 1960er Jahren den Versuch unternommen, die visuelle Ordnung von Stadträumen, in denen sich Menschen gerne aufhalten, zu vermessen. Er kam zu gewissen Regelmäßigkeiten bezüglich der Länge und Breite der Plätze, der Gradlinigkeit und Nicht(!)gradlinigkeit von Straßen, der Höhe der Bebauung , der Abstände der Bebauung . Es muss von „gewissen Regelmäßigkeiten“ gesprochen werden – Uniformität darf nicht entstehen.

Auch die Politologin Nicole Küster hat diesen Zusammenhang 2013 in ihrer Dissertation „Schönheit und Wert von Immobilien“ belegt und dokumentiert. Ihr Ergebnis ist eindeutig: Menschen lieben und belohnen Tradition und Harmonie in Architektur und Städtebau.

Zur Harmonie trägt die Offenheit für historische Bezüge, das Einfügen in die lokale Bautradition und das Verwenden ortstypischer Baumaterialien signifikant bei. Neubauten sehen aber meist unharmonisch oder uniform aus: glatte, unregelmäßige Putzfassaden mit Fenstern in Form von Schießscharten.

240112 langeweile staedtebau 5Foto 5: Zumindest in Form, aber ohne Stuck: Ein Wohnhaus in der Großen Rittergasse in Frankfurt.

Es ist an der Zeit, dass Architekten daran erinnert werden, dass der Nachhaltigkeitskanon aus Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit wieder das vitruvsche Prinzip der venustas (Schönheit) integrieren muss. Denn Städtebau und Architektur haben auch die Aufgabe, der Stadtgesellschaft als Ganzes zu dienen.

Diese Aufgabe geht alle deutschen Städte an. Für Berlin gilt dies aber besonders: Für das Jahr 2037 – das achthundertste Jubiläum seiner Ersterwähnung – sollte sich Berlin besinnen, dass Städtebau und Architektur wieder allen Nachhaltigkeitsprinzipien gerecht werden.

Benedikt Goebel ist Vorstand der Stiftung Mitte Berlin und Wolfgang Maennig ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg. 1988 wurde Maennig bei den Olympischen Spielen im südkoreanischen Seoul im Achter Sieger im Rudern.

Abbildung 1: Mit Wucht: In Berlin trifft Altes auf Neues und hält sich dabei nicht an die architektonischen Gepflogenheiten. Fotograf/-in: Foto Jens Gyarmaty

Abbildung 2: Eintönigkeit vom Reißbrett: Im Frankfurter Europaviertel gleichen sich die Häuser wie ein Ei dem anderen. Fotograf/-in: Foto dpa

Abbildung 3: Mehr als graue Wände: Ein Neubauprojekt in Rüsselsheim. Fotograf/-in: Foto Frank Röth

Abbildung 4: Unsaniert, aber sexy: Ein Altbau in Berlin Fotograf/-in: Foto Matthias Lüdecke

Abbildung 5: Zumindest in Form, aber ohne Stuck: Ein Wohnhaus in der Großen Rittergasse in Frankfurt. Fotograf/-in: Foto Sebastian Cunitz

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