Ein neues Buch fängt Berlins historischen Geist anhand von über 60 Objekten ein – und erzählt, wo diese heute zu finden sind.
Berliner Zeitung vom 24.11.2023

Berlin ist eine Stadt, die viel erlebt hat – aber große Teile dieser Geschichte sind heute kaum spürbar. Viele existieren auch gar nicht mehr, wie der Palast der Republik, der aus dem Stadtbild getilgt wurde, lange bevor sich die Menschen mit dem historischen Erbe, das er repräsentierte, auseinandersetzen konnten. Und es entstehen auch neue Räume, wie etwa der lange umkämpfte neu zu gestaltende Molkenmarkt, der an Zeiten erinnern soll, die die heutige Bevölkerung der Stadt nicht gekannt hat.

Mit jeder Neuerfindung dieser Stadt – mal zum Guten, mal zum Schrecklichen – ist der Draht zu ihrer „baulichen und seelischen Mitte“ immer weiter verloren gegangen. Wäre das nicht eine Erklärung für die „emotionale Entfremdung“, die die Berliner heute gegenüber ihrer Stadt empfinden? Diese Frage stellt sich Maritta Tkalec, seit 1984 Autorin der Berliner Zeitung, im Vorwort ihres Sachbuchs „Geschichte Berlins in 60 Objekten“. Das Buch ist genau das – eine Zeitreise von den ersten Spuren des Lebens in den Sümpfen, die zu dieser Stadt wurden, bis zur zeitgenössischen Kultur und den Debatten, die sie prägen.

Denn sie sind immer noch vorhanden, so Tkalec – die mal mehr, mal weniger bekannten Gegenstände, die Anhaltspunkte für die Stadthistorie bieten und anhand derer die Berliner eine Verbindung zur Geschichte ihrer Stadt aufnehmen können. Wenn sie endlich wissen, wo diese Gegenstände zu finden sind. Dabei ist die Auswahl der 60 Objekte so vielfältig wie die Berliner und ihre Geschichte selbst. Der 270-seitige Streifzug durch die Geschichte beginnt mit dem Elch vom Hansaplatz – der bereits vor 13.000 Jahren in der Steinzeit die sumpfigen Ebenen der heutigen Mitte durchstreifte. Die Zeitreise endet beim Lastenrad – einer Erfindung mit Wurzeln in Ost- sowie West- Berlin und einem Symbol für die heutige Verkehrswende und die Debatten darum.

Aus all den Jahren dazwischen erzählt Tkalec jede Menge aufschlussreiche Geschichten: über das Pestarzt-Gewand, den Judenstern und die Waffe, mit der ein West- Berliner Flüchtlingshelfer einen Ost- Berliner Grenzsoldaten erschossen hat, als er auf einen unterirdischen Fluchtweg stieß. Sie erzählt auch über den in Kreuzberg entworfenen ersten Computer der Welt, über die Tür zum Club Tresor oder den Dönerspieß. Dazwischen bekommt man Informationen zu Litfaßsäulen oder zu der Granatschale im Lustgarten. Zu Gegenständen, an denen die meisten im Alltag vorbeilaufen, ohne sie zu beachten.

Berlin von Eiszeitelch bis Dönerspieß – die 13.000 Jahre dazwischen haben vieles zu bieten: für alle, die sich für Berlin interessieren, egal welche Epoche sie am meisten begeistert. Nach der Altsteinzeit geht die Reise im Buch weiter durch das Mittelalter, die Zeit der Industrialisierung und Einigung Deutschlands, dann durch Berlin vor und zwischen den Weltkriegen, die NS-Zeit, die deutsche Teilung und die Nachwendezeit bis zur Gegenwart.

Mit drei bis vier Seiten pro Objekt samt Bildern können die Leser leicht in die Geschichte eintauchen und zwischen den Gegenständen und Zeiten hin- und herspringen. Der chronologische Aufbau des Buches ermöglicht aber auch die Lektüre in einem Durchgang. Viele der vorgestellten Objekte sind tatsächlich immer in Berlin zu sehen. Und wer nach der Lektüre mehr über sie erfahren will, findet in den Texten Angaben zum aktuellen Standort. Wer also einen historischen Reiseführer durch das heutige Berlin sucht, wird hier fündig.

Maritta Tkalec hat in ihre Auswahl auch etliche Gegenstände aufgenommen, deren Wahrnehmung sich im Laufe der Jahre mehrfach verändert hat – wie sich Berlin selbst immer wieder neu erfinden musste. Ein Beispiel ist der große Lenin-Kopf, der einst als Teil einer 19 Meter hohen Skulptur auf dem Friedrichshainer Leninplatz stand, dem heutigen Platz der Vereinten Nationen. Die Statue wurde zerlegt, und es gab viele Protestaktionen. So wurde dieses Objekt zu einem Symbol für den Untergang der DDR. Der Kopf landete vergessen in einer Sandgrube in Müggelheim. Doch seit 2016 wird er nun in der Spandauer Zitadelle ausgestellt – als Teil einer „Geschichtsdeponie“, wie Maritta Tkalec es nennt. Dort stehen auch andere Denkmäler aus Zeiten, hinsichtlich derer Berlin noch unsicher ist, wie es mit ihnen umgehen soll.

Maritta Tkalec erzählt eine dynamische Stadtgeschichte, deren Ende noch nicht geschrieben ist. Es sind noch viele Fragen offen, und vielfach gehen die Meinungen auseinander. Aber wie die Autorin im Vorwort schreibt: Es wäre schön, wenn wir trotz der gewaltigen Veränderungen, die noch auf Berlin zukommen werden, am Ende doch eine Stadt hätten, die wir lieben können. Nach der Lektüre dieses Buches – trotz oder auch gerade wegen der geschichtlichen Stolpersteine – wird es nicht schwerfallen, etwas zu finden, das man in dieser Stadt lieben kann.

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