„Im Stadtkern gibt es keinerlei Anziehungspunkte“
Tagesspiegel vom 20.08.2023 von Teresa Roelcke

Herr Goebel, mit der im vergangenen Jahr gegründeten Stiftung Mitte Berlin wollen Sie der Stadt etwas erstreiten, von dem Sie selbst sagen, dass es die meisten Berlinerinnen und Berliner gar nicht vermissen: eine Altstadt, eine neu gebaute historische Mitte . Wozu? Im jetzigen Zustand hat der Stadtkern, die zwei Quadratkilometer Fläche zwischen Spreekanal und Stadtbahn, ganz viele Unzulänglichkeiten. Der Ort läuft weit unter Wert: Er liegt am aller zentralsten und ist wunderbar erschlossen durch den Nahverkehr. Außer für die Anwohner gibt es jedoch keinerlei Anziehungspunkte, zu denen die Berliner freiwillig hingehen würden. Aber es gibt die großen Ausfallstraßen, die alle auf den Fernsehturm zulaufen. Wir möchten, dass es da wieder ganz viele Wohn- und Geschäftshäuser gibt, die ein breites Angebot bereithalten: Stiftungen, Galerien und Ausstellungen, Kunst, Kultur und Musik. Und natürlich Restaurants und kleine Cafés, in denen es den besten Erdbeerkuchen der Stadt gibt.

Wie soll das funktionieren? Wenn das Land Berlin sich entschließen würde, die Berliner Mitte zu reurbanisieren, dann müsste man sicherstellen, dass das kein banales Immobilienprojekt wird mit unerfreulichem Ausgang. Das Land müsste die Frei- und Verkehrsflächen reduzieren und die Grundstücke in Konzeptverfahren an unterschiedliche Bauherren vergeben, um sie dann zu bebauen. In unserer Vorstellung müsste das nach dem Vorbild von Frankfurt am Main, Dresden und Potsdam geschehen, wo jeweils ein Teil des Zentrums als lebendiger Ort für die Stadtgesellschaft wiedergewonnen wurde.

Ihr Wunsch nach einer Altstadt richtet sich zum Beispiel auf den Molkenmarkt , wo gerade ein neues Quartier entwickelt wird. Der bisherige Plan ist, dass hier mit der WBM und der Degewo zwei landeseigene Wohnungsgesellschaften bauen . Sie fordern, die Grundstücke zu privatisieren. Der Bodenrichtwert am Molkenmarkt liegt aber bei 15.000 Euro pro Quadratmeter. Wer soll denn hier Grundstücke kaufen, bauen und dann noch den guten Erdbeerkuchen anbieten, den sich die breite Gesellschaft leisten kann? Generell ist unsere Erfahrung, dass dieser leckere Erdbeerkuchen und der Kaffee oder Tee, den man dazu trinkt, in den Zentren von größeren Städten zwei oder drei Euro mehr kostet als am Rand der Stadt. Aber auch für Menschen, die ganz normal Geld verdienen, ist es möglich, sich das zu leisten, weil man das ja nicht jeden Tag macht. Trotzdem macht man es gerne, weil es etwas Besonderes ist, in ein altes, wunderschönes Café zu gehen. Zum Bodenpreis: Die WBM hat das Grundstück für einen symbolischen Preis bekommen und musste den Bodenrichtwert nicht zahlen. Wenn das Land sich dafür entscheiden sollte, dass der Molkenmarkt doch anspruchsvoll, kleinteilig und vielfältig entwickelt wird, dann könnte es den künftigen Eigentümern im Preis entgegenkommen.

Wie könnte das aussehen? Das Land könnte ein Konzeptverfahren ausschreiben und darin Bedingungen stellen. Auf diese Weise könnte man Bewerber suchen, die etwas Besonderes versprechen, und die dann unterschreiben, dass sie das wirklich liefern. Im Gegenzug könnte man ihnen dann beim Bodenpreis entgegenkommen, wenn das Bauen dort sich sonst nicht rentieren würde.

Sie gehen also nicht davon aus, dass sich private Bauherren finden, wenn der Bodenpreis bei 15.000 Euro pro Quadratmeter bleibt. Ehrlich gesagt nicht. Die 15.000 Euro pro Quadratmeter sind ja nur der Grundstückspreis. Wenn man dann noch bauen will, muss man sich schon extreme Mieteinnahmen erhoffen, um das zu refinanzieren. Dort bei unverändertem Bodenrichtwert zu bauen , ginge nur mit Bauherr :innen, die diesen Ort nutzen wollen, um sich selbst oder zum Beispiel eine kunsthistorische Sammlung zu präsentieren. Sie müssten natürlich viel Geld mitbringen und würden bauen , weil ihnen an den anspruchsvollen Nutzungen liegt – obwohl sie wissen, dass es sich nicht refinanziert.

Wen stellen Sie sich da vor? Personen wie die Stifterin selbst oder einzelne unserer Zustifter, die ja auch keine kommerziellen Interessen haben. Das ist eigentlich der Normalfall, dass in einer großen Stadt auch sogenannte Stadthäuser gebaut werden. Die Adelsfamilien und die Klöster des Umlandes hatten ja früher Häuser in der Berliner Mitte, um dort zu repräsentieren.

Das muss man ja nicht unbedingt heute noch so wollen. Sie dürfen das nicht so verstehen, als würden wir eine adelige Stadtmitte wollen. Für die Altstadt sollen Bürger:innen als Bauherr :innen gewonnen werden, die etwas Besonderes bauen und besondere Nutzungen anbieten, die auch für andere attraktiv und interessant sind. Dass sich das am Ende wirtschaftlich rechnet, wäre schön, aber wir halten es für unwahrscheinlich.

Wie bezahlbar wären die Wohnungen, die dort gebaut würden? Mit meiner SPD-Ortsgruppe Alexanderplatz habe ich vor Jahren für die Kreisdelegiertenkonferenz den Antrag eingereicht, öffentliche Flächen an private Bauherren zu vergeben und diesen im Augenblick der Vergabe vorzuschreiben, dass sie dauerhaft 30 Prozent der Flächen zu bezahlbaren Mietpreisen anzubieten haben.

Sind Sie zuversichtlich, dass das Land Berlin am Molkenmarkt entgegen den bisherigen Plänen tatsächlich Flächen an andere als die Landeseigenen vergibt? Im neuen Koalitionsvertrag steht, dass am Molkenmarkt auch gemeinwohlorientierte Akteure bauen sollen. Das hat natürlich Hoffnungen geweckt. Aber es ist noch völlig offen, was passiert.

Wünschen Sie sich, dass der Bebauungsplan für den Molkenmarkt noch mal aufgemacht wird? Die Grundstücksparzellen, die der Senat vorsieht, sind alle möglichst gleich groß geschnitten. Das macht das Quartier schon von vornherein steril. Die Parzellen müssten auch verschiedene Formen haben. Es müssten lang gestreckte, quadratische, schräge oder ganz unregelmäßig geformte Parzellen sein. Das ist wichtig für die Komplexität des Stadtraums, der dann da entsteht.

Vorgesehen sind drei Blöcke: A, B und C. Mit dem Bebauungsplan für den Block C habe ich kein Problem. Der ist kleinteilig strukturiert, da kann man tolle Sachen machen. Aber die Blöcke A und B sind zur Westseite viel zu sehr zur Straße hin aufgeweitet. Es gab dort historische Fluchtlinien durch die Straßen, die jahrhundertelang bestanden. Man hätte die Grundstücksgrenzen parallel dazu verschieben müssen. Sie haben jetzt aber einen komischen Knick, der sich nur aus dem Verkehr erklärt. Das entwertet die Blöcke total. Eine richtige Todsünde ist aber der quadratische Platz im Block A. Da ist viel zu wenig Platz für die Benutzer vorgesehen. Man bräuchte private Höfe für die Bewohner als Rückzugsort und keine öffentliche Durchwegung. Mit diesem B-Plan kann man kein attraktives Quartier entwickeln – auch nicht, wenn hier komplett private Bauherren bauen würden.

Arbeitet die Stiftung Mitte Berlin also darauf hin, den Bebauungsplan noch mal aufzumachen? Dass das passiert, kann man sich kaum vorstellen. Aber wir sind für ein Moratorium bei den Blöcken A und B. Wir möchten nicht, dass die gebaut werden, weil wir uns nicht vorstellen können, dass da etwas Gutes entsteht. Block C könnte man schon entwickeln. Man müsste mit dem Rest noch ein paar Jahrzehnte warten, bis die Straße hoffentlich halbiert ist. Und dann macht man es nochmal richtig.

Glauben Sie, dass die Forderung nach so einem Moratorium Gehör finden wird? Es könnte von alleine so laufen. Berlin scheitert intrinsisch. Der Senat und die Bezirke sind wahrscheinlich so unfähig, dass überhaupt nichts passiert.

Der Molkenmarkt soll laut den Leitlinien ein Modellquartier für Klimaresilienz werden. Das kommt in Ihren Plänen nicht vor. Der Klimawandel ist ohnehin ein total dominantes Thema. Das kommt bei uns sicherlich vor und ohne das kann man gar nicht mehr entwickeln und bauen . Aber wir agieren natürlich als Aktive für diesen besonderen Teil der Stadt, weil das außer uns niemand tut. Dieser Bereich ist ohnehin sehr winzig im Vergleich zum Rest der Stadt. Es gibt gute Gründe, Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit am Molkenmarkt nicht zu 100 Prozent umzusetzen. In den heißen Mittelmeerländern haben die Städte ja auch enge Gassen und hohe Häuser, weil es dann viel mehr Verschattung gibt. In diesen eng bebauten Quartieren ist es dann kühler als auf den großen Freiflächen, wo die Sonne voll reinkommt.

Einmal aufgeheizt, kühlen solche steinernen Quartiere aber nicht mehr gut ab . Wir stellen uns vor, dass die Häuser schräge Dächer zur Straße hin haben, und dass sie dahinter begrünt sind. Außerdem sind wir aufgeschlossen für die wunderbare Institution des Berliner Straßenbaums.

Wo bleiben da öffentliche Grünflächen, die zur Abkühlung wichtig sind? Das Rathaus-Forum zu Füßen des Fernsehturms ist aktuell als grüne Oase geplant, aber auf die würden Sie auch gerne verzichten. Ja, wir möchten gerne, dass da Häuser gebaut werden. Da standen mal 174 Häuser, zwei davon stehen noch. Diese aller zentralste Freifläche ist deutlich unternutzt. Das städtische Leben kehrt dahin nur zurück, wenn die Fläche größtenteils wieder bebaut wird. Zum Beispiel gab es dort früher den Neuen Markt. Dass da mal ein wichtiger Marktplatz und Geschichtsort war, ist heute aber vollkommen vergessen.

Warum ist es so entscheidend, dass man sich daran erinnert? In diesem zentralen Freiraum gab es etliche Grundstücke von Menschen, die nach 1933 als Juden verfolgt worden sind. Ich habe deren Geschichte untersucht und veröffentlicht. Aber vor Ort gibt es nur einen einzigen Stolperstein. Da wären weitere Stolpersteine zu legen und Gedenktafeln aufzustellen. Da ist ganz viel Stadtgeschichte, die verschüttet bleibt, indem man das jetzt als Freiraum nutzt. Wir kümmern uns ja nicht nur um die schönen Seiten der Geschichte, sondern auch um ihre Abgründe.

Sie haben kürzlich die Ausstellung „Macht Raum Gewalt. Planen im Nationalsozialismus“ in der Akademie der Künste kuratiert. Sie haben in einem Raum 150 Kurzbiografien von „Akteuren“ in alphabetischer Reihe nebeneinander gehängt – Architekten, die während der NS-Zeit verfolgt waren, sowie DDR-Architekten direkt neben Albert Speer und anderen in Nürnberg angeklagten Tätern. Wie rechtfertigen Sie diese Gleichsetzung? Die Ausstellung beruht auf einem Forschungsprojekt einer vom Bundesbauministerium berufenen Historikerkommission. In dem Katalog des Projekts waren diese Biografien genau so abgedruckt. Dass das skandalisiert worden ist, liegt vor allem daran, dass die Ausstellung „Macht, Raum, Gewalt. Planen und Bauen im NS“ hieß. Tatsächlich haben aber vier von 15 Forschungsgruppen die Nachkriegszeit behandelt. Diese vier Forschungsgruppen haben auch Biografien beigesteuert, und die sind eben auch in den Katalog eingegangen. Das haben wir so in die Ausstellung übernommen. Wenn der Titel „Architektur und Städtebau von 1933 bis 1957“ geheißen hätte, dann wäre es nicht skandalisiert worden.

Aber Sie hätten ja Vorsichtsmaßnahmen gegen den Eindruck der Gleichsetzung von Tätern und Opfern ergreifen können, die Biografien zum Beispiel nicht in alphabetischer Reihenfolge präsentieren. Die Inhalte der Ausstellung verantwortet die Unabhängige Historikerkommission. Die Umsetzung und die Koordination mit dem Team oblag mir. Im Nachhinein hätten wir es lieber so gemacht, dass wir die Nachkriegs-Architekten und -Stadtplaner zur Nachkriegszeit gehängt hätten. Auch die Kritiker sagen ja, dass den biografischen Texten selbst gar nichts vorzuwerfen ist, weil dort auch steht, wer verfolgt war. Außerdem gibt es in der Ausstellung einen Text, der klarstellt, dass auch Verfolgte unter den Akteuren sind. Daher ist es dann auch nicht mehr verfänglich, dass das in alphabetischer Reihenfolge hängt. Diese Hängung kommt aus der akademischen Herangehensweise, bei der man zum Lesen angehalten ist.

Bei einer wissenschaftlichen Herangehensweise nimmt man aber auch immer eine Einordnung und Bewertung vor. Sie haben bereits etliche Ausstellungen kuratiert und bringen entsprechend ausreichend Erfahrung mit. Ich habe jetzt aus meiner Sicht mehrfach begründet, warum das so ausgestellt war. Ich würde es nicht noch mal so machen. Ich finde die Aufregung aber übertrieben.

Vor kurzem haben Sie noch an einer anderen Stelle eine historische Gleichsetzung vorgenommen. Als Referent der Kammergesellschaft im Waldorf Astoria sagten Sie: „Auch der moderne Städtebau ist ein Meister aus Deutschland.“ Das ist ein leicht verändertes Zitat aus Paul Celans Auschwitz-Gedicht „Todesfuge“. De facto setzen Sie mit Ihrer Formulierung den modernen Städtebau mit den deutschen Tätern in Auschwitz gleich. Der Städtebau ist eine deutsche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Mit einem Buch von Reinhard Baumeister im Jahr 1876 wurde der Städtebau eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Das zu der deutschen Herkunft. Albert Speers Generalbauinspektionsbehörde hat den Holocaust in Berlin mitorganisiert, hat die Listen zusammengestellt von den verfolgten Berlinern , die dann deportiert wurden, auch um die Wohnungen freizumachen. Daher hat der Stadtumbau der NS-Zeit direkte Verbindung zum Holocaust. Ich sehe diesen Städtebau wirklich als mörderische Tätigkeit.

Aber der Städtebau des NS ist ja nicht gleichbedeutend mit dem modernen Städtebau . Egal ob in der Kaiserzeit, Weimarer Zeit, Nazizeit oder Nachkriegszeit, der moderne Städtebau hat etwas extrem Gewalttätiges. Es ist ein staatlicher Gewaltakt, dass man in die herrschenden Besitzverhältnisse eingreift und jahrhundertealte Häuser entmietet und abreißt. Das ist in großem Stil passiert und es war eine extrem brutale Praxis. Ich finde es ein wenig bösartig, mir in den Mund zu legen, dass ich den modernen Stadtumbau generell mit dem Holocaust gleichsetzen würde. Es gibt gute Gründe dafür, den Städtebau einen Meister aus Deutschland zu nennen und damit auch die Assoziation in Kauf zu nehmen, dass der moderne Städtebau mörderische Aspekte hatte.

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Zitat
Es gibt gute Gründe, Klimagerechtigkeit am Molkenmarkt nicht zu 100 Prozent umzusetzen.

Benedikt Goebel

Infobox
Benedikt Goebel ist Stadtforscher und Mitglied der„Planungsgruppe Stadtkern“. Er gehört dem Vorstand des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin -Brandenburg an. 2022 gründete er mit Marie-Luise Schwarz-Schilling die „Stiftung Mitte Berlin “.

Infobox

  • „Mitte-Fest“ der Stiftung Mitte Berlin, 1. bis 3.9. in der Parochialkirche
  • „Konferenz gegen identitäre Erinnerungsarchitektur“, 26. und 27.8. der Zeitschrift Arch+ in der Klosterruine
  • Workshops von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“, 25. bis 27.8. vor der Klosterruine

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