FAZ, 27. 07.2010 - Von Bernard Andreae

Ein Verzicht auf den Wiederaufbau des Schlosses ist nicht vorstellbar. Fragen der Nutzung sollte man Experten überlassen.

Sowenig man sich vorstellen kann, das Münsteraner Rathaus oder die Frauenkirche in Dresden wären nicht wieder aufgebaut worden, so wenig möchte man den Gedanken fassen, das Berliner Schloss solle nicht wieder erstellt werden. Denn es hat für das Ansehen von Berlin den gleichen Rang wie jene die Geschichte der jeweiligen Orte verkörpernden Bauten. Zum Glück wird wohl deshalb der Wiederaufbau nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern es wird nur hier und da eine Denkpause begrüßt, weil die genaue Form und die mögliche Nutzung des Riesengebäudes nicht geklärt scheinen.

Gewiss kann darüber nicht gründlich genug nachgedacht werden. Man sollte aber doch ohne Anmaßung einige Eckpunkte für unabdingbar erachten, besonders wenn einem die ruhigen Worte Günter de Bruyns über die Straße Unter den Linden, über das Zentrum Berlins und über die von Anfang an vorgesehene Multifunktionalität des mächtigen Barockbaus im Ohre klingen, an dessen Stelle nun die "innerstädtische Leere" getreten ist. Diese ist nur noch von Verkehrslärm erfüllt. Die Verkehrsader, die als kürzeste Verbindung zwischen Ost und West dient, wird man wohl so wenig wieder schließen können wie in Rom die Achse von der Piazza Venezia zum Colosseum, so wünschenswert dies wäre. Doch trotz allem: wie diese mitten durch das Forum führt, so sollte auch Berlin sein Forum haben. Ganz im Sinne der Jetztzeit, in der Daniel Kehlmann uns über "Die Vermessung der Welt" aufgeklärt hat, hat man ihm den Wunschnamen Humboldt-Forum gegeben.

Ist das Begriffsalchimie, wie Patrick Bahners im Leitartikel dieser Zeitung am 24. Juni behauptet hat, oder trifft man damit in dem in unmittelbarer Nähe der Humboldt-Universität gelegenen Raum die Pointe, die als Ziel und Blickpunkt der Prachtstraße Deutschlands dem Brandenburger Tor seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fehlt? Damals hatte Walter Ulbricht an der Spitze einer "demokratischen" Republik die selbstherrliche Anordnung gegeben, die noch weitgehend aufrecht stehenden Mauern des Schlosses zu sprengen. Ein unerhörter Gewaltakt. Die Bundesrepublik Deutschland, die des tautologischen Adjektivs demokratisch nicht bedarf, hat durch Volksbeschluss die Anordnung zum Wiederaufbau gegeben. Das ist einer der Eckpunkte, die man anerkennen muss.

Ein weiterer ist, dass die Nutzung des Baus zeitgemäß sein sollte, so wie sie es in ständiger Wandlung zu allen Zeiten war, seit Schlüter, Eosander von Göthe und Stüler den Bau in seiner herrlichen Gestalt errichtet hatten. Heutzutage ist ein Primat der Politik Bildung. Dieser dienen Bibliotheken, Museen, wissenschaftshistorische Sammlungen. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die am meisten einbringen würde, Hermann Parzinger, weiß wie sein Vorgänger Klaus-Dieter Lehmann, der das Projekt Humboldt-Forum entworfen hat, wovon er spricht. Ihm stehen die Experten zur Seite, denen man letztendlich das Handeln überlassen muss.

Was die Kosten angeht, die in Zeiten einer Finanzkrise nur schwer aufzubringen sind, so wird selbst von den Kritikern eingeräumt, dass der Schlossbau nur einer der kleineren Posten im Sparpaket der Bundesregierung ist. In Wahrheit wird durch den Aufschub des Baubeginns gar nichts gespart, da man die Dahlemer Museen restaurieren müsste, wenn man deren große Sammlungen nicht möglichst bald ins Schloss überführen kann.

Das alles ist bekannt und muss doch, wie Demosthenes lehrte, ständig wieder ins Bewusstsein gerufen werden, weil es andere Interessen gibt, die sich sonst in den Vordergrund schieben. Zum Wichtigsten im Dasein zählt die Gestaltung der Umwelt, die unser Leben anfeuert.

Bernard Andreae war von 1984 bis 1995 Erster Direktor der Abteilung Rom des Deutschen Archäologischen Instituts.