Der Krieg rückt näher an die Grenze der Nato heran. In der historischen Stadt Lwiw bereitet sich ein Museumsdirektor auf das Schlimmste vor.
Berliner Morgenpost vom 29.03.2022 - von Justine Salvestroni 

Lwiw Mariupol, Charkiw, Tschernihiw: Bislang lagen die Städte, auf die der russische Raketenhagel niederging, vor allem im Südosten, Nordosten und Norden der Ukraine. Doch zunehmend gerät auch der Westen, der bislang als vergleichsweise sicher galt, ins Visier der Russen.

Insbesondere die historische Stadt Lwiw, in der bislang Flüchtlinge auf dem Weg in die EU Zwischenstation machten, ist betroffen. Lwiw liegt rund 80 Kilometer vom Nato-Mitgliedsland Polen entfernt.

Am Wochenende schlugen russische Raketen in einem Treibstofflager in den Außenbezirken von Lwiw ein. Die schwarzen Rauchwolken waren kilometerweit zu sehen. Zuvor war bereits der Flughafen der Stadt getroffen worden. Und auf dem Truppenübungsplatz Jaworiw, 20 Kilometer Luftlinie östlich der Grenze zu Polen, wurden Dutzende Menschen getötet. Vor dem Beginn der russischen Invasion waren dort auch Nato-Ausbilder aktiv.

In Lwiw wächst die Angst, dass die Russen bald auf breiter Front attackieren könnten. Überall in der Stadt werden Sandsäcke aufgestapelt. Kirchen und Museen versuchen ihre Kunstschätze in Sicherheit zu bringen.

Auch Bohdan Tykholoz, Direktor des Museums zu Ehren des berühmten ukrainischen Schriftstellers Iwan Franko, bereitet sich auf das Schlimmste vor. Ein Teil der Exponate wanderte in den Bunker des Museums. Tykholoz wohnt dort auch seit Kurzem. „Ein Museumsdirektor ist wie der Kapitän eines Schiffs, er geht als Letzter von Bord“, sagt der 43-Jährige. Seine Frau und seine Kinder haben sich bereits auf den Weg nach Deutschland gemacht. Er hat seine Wohnung Geflüchteten aus den bombardierten Städten im Osten der Ukraine zur Verfügung gestellt.

„Es gibt keine aktuellen Vorgaben zur Evakuierung der Sammlung, die letzten Anweisungen stammen aus der Zeit des Kalten Krieges“, erklärt Tykholoz. „Also sind wir den Empfehlungen des Internationalen Museumsrates gefolgt.“ Der Direktor hatte nicht wirklich eine Wahl angesichts der „langsamen Reaktion des Kulturministeriums, das auf den Krieg überhaupt nicht vorbereitet war“. Es war alles Eigeninitiative. Seit dem 24. Februar, dem ersten Tag des russischen Angriffs, sind die Angestellten des Museums einfach zur Tat geschritten. Sie schnappten sich ein Stück nach dem anderen und verstauten alles in Kartons, die sie sich selbst bei verschiedenen Postfilialen besorgt hatten.

Die insgesamt 35.000 Ausstellungsobjekte wurden sorgfältig verpackt und beschriftet und das Datum des letzten Tages vor Ausbruch des Krieges auf Papier notiert. Die verschiedenen Ausstellungen können dann nach Kriegsende genau gleich wieder aufgebaut werden. Momentan sind die Kartons zum Teil im Museumsbunker, zum Teil in einem anderen Bunker eingelagert, dessen Standort nur zwei Personen kennen. „Wenn es gar nicht anders geht, können die Kunstwerke ins Ausland gebracht werden“, führt Tykholoz aus. „Weil das Museum weit von der Front entfernt ist, war genug Zeit, die Ausstellung in Sicherheit zu bringen – im Osten des Landes hatten die Leute diese Zeit nicht.“

Iwan Franko lebte von 1902 bis zu seinem Tod 1916 in Lwiw. Er war ein produktiver Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und sozialistischer Aktivist. Er beherrschte mehr als 20 Sprachen und übersetzte die Werke von Goethe, Shakespeare und Flaubert ins Ukrainische. „Er ist einer der großen Denker der ukrainischen Identität“, betont Museumsdirektor Tykholoz. „Vor allem aber war er ein Gegner der Russen, deren Offensive in der Ukraine aktuell nicht nur eine militärische, sondern auch eine kulturelle ist.“

Bohdan Tykholoz macht sich daher Sorgen. Die Angestellten seines Museums üben den Umgang mit der Waffe und trainieren sich in Verteidigung. Zusammen mit den Unterstützern des Museums haben sich mehr als 50 Menschen dem Schutz der Villa von Iwan Franko verschrieben. Die Fenster wurden dicht gemacht, von außen mit Sandsäcken, von innen mit Biografiebänden von Iwans Sohn Petro Franko.

Das Museum hat eine tragische Geschichte. Die ersten drei Direktoren wurden während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach dafür bestraft, dass sie Iwan Frankos sozialistischen Ideen anhingen.

Das Iwan-Franko-Haus ist kein Einzelfall. Auch andere Kulturstätten in Lwiw nahmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Museen, Bibliotheken, Kirchen und private Sammlungen in der ganzen Stadt haben ihre Kunstwerke schnellstmöglich in Sicherheit gebracht. Zum Beispiel die armenische Kathedrale, eines der ältesten Bauwerke von Lwiw. Die Geistlichen entfernten ein kostbares Kruzifix aus der Kirche, das bereits 1941 an einen sicheren Ort verfrachtet worden war. Die Hektik der kulturellen und religiösen Institutionen in Lwiw ruft bei den Einwohnern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach. Lwiw hat rund 730.00 Einwohner und existiert seit 1356. Die Altstadt weist eine von Kriegszerstörungen verschont gebliebene und fast einmalige geschlossene Bebauung der Renaissance, des Barocks, des Klassizismus, Historismus, Jugendstils und Art déco auf. 1998 wurde das historische Zentrum der Stadt in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco eingetragen.

Doch mit den heranrückenden Bombardierungen ist auch der Stadtkern der Zerstörung ausgesetzt. „Lwiw ist eine Festung, die über Jahrhunderte überlebt hat, während andere Städte zerstört wurden“, erklärt die Architekturhistorikerin des Center of Urban History of East Central Europe in Lwiw, Olha Zarechnyuk. „Heute ist Lwiw eine der schönsten Städte der Ukraine. Ihre Architektur, eine Mischung aus polnisch-ukrainischem, jüdischem, deutschem, italienischem, armenischem und österreichischem Erbe, ist ein Spiegel der multikulturellen Vergangenheit.“

In Städten wie Iwankiw, Charkiw, Viaziwka gerieten Museen oder Kirchen bereits unter Beschuss und wurden zerstört. Bohdan Tykholoz sitzt in seinem Museumsbunker. Er ist sehr besorgt. „Wenn man sieht, dass die Russen es fertigbringen, die Geburtsklinik von Mariupol zu bombardieren: Was werden sie dann erst mit unseren Museen anstellen?“

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