Verkehrssenatorin Jarasch will Debatte auf sachliche Grundlage stellen. Straßenbahn kommt bis 2028, der Rangierbahnhof in der Leipziger Straße wird verlegt.
Berliner Zeitung vom 16.03.2022 von Maritta Tkalec

Die Zukunft der beiden Gertraudenbrücken wird noch einmal geprüft: Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) lässt die Tragfähigkeit der Alten Gertraudenbrücke durch einen externen Gutachter neu berechnen. Der Vorgängersenat hatte beschlossen, die marode Neue Gertraudenbrücke durch einen simplen Ersatzneubau wieder als autobahnähnliche Verkehrstrasse zu errichten. Sie wolle „die Debatte versachlichen“, sagte Bettina Jarasch der Berliner Zeitung. Daher werde nun nochmals geprüft, ob tatsächlich eine Verkehrsführung einschließlich Straßenbahn über das alte Bauwerk möglich sei. Wenn dann ein unabhängiges, objektives Urteil diese Option ausschließe, dann gebe es „noch einen Grund weniger“, vom bisherigen Senatsbeschluss abzuweichen, sagte sie.

Diese Verabredung sei am Dienstagabend während einer online durchgeführten Akteurskonferenz getroffen worden. Dieses Treffen war auf Initiative der neuen Senatorin zustande gekommen, um „alle Perspektiven einzusammeln und zu sehen, was für die Verkehrswende geht“.

Konsens bestand unter den Teilnehmern, so Jarasch, dass die geplante Straßenbahntrasse vom Potsdamer Platz zum Alexanderplatz nun schnell gebaut wird. Sie hält die Fertigstellung bis 2028 für machbar – allerdings nur, sagte sie, „wenn das Planfeststellungsverfahren nicht noch einmal aufgemacht wird“.

Neubau gleich mit Rückbaumöglichkeit

In jedem Fall solle die Alte Gertraudenbrücke für Fußgänger und Radfahrer saniert und als schöner städtebaulicher Akzent gestaltet werden, sagte Jarasch. Auch die Figur der Heiligen Gertraude werde dort wieder ihren Platz finden. Für den Neubau der Straßenbrücke, will sie schon in der Ausschreibung für den Architektenwettbewerb deutlich machen, dass „Vorschläge für künftige Rückbaumöglichkeiten“ im Sinne einer „verkehrswendetauglichen Brücke“ sehr willkommen seien.

Derzeit ist vorgesehen, dass in einer ersten Phase des Betriebs der neuen Brücke je Richtung zwei Autospuren existieren und sich Busse und Radfahrer eine dritte Fahrspur teilen. Wenn dann die Straßenbahn den Busverkehr überflüssig mache, sollte schließlich der Autoverkehr am Ende des Prozesses auf eine Spur beschränkt werden. Das will die Mobilitätssenatorin beschleunigen: „Ich will so schnell wie möglich eine Spur.“ Allerdings, so räumt sie ein, dürfe kein Ausweichverkehr in andere Stadtbereiche erzeugt werden. In dem Fall drohten Klagen Betroffener. Deshalb brauche es möglichst rasch ein Verkehrskonzept.

Teilnehmer der Akteurskonferenz berichten von einer „offenen Stimmung“ während der Beratung, an der auch die neue Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt, Vertreter von ADAC, Industrie- und Handelskammer (IHK) sowie von Bürgerinitiativen teilnahmen.

Die in den 1970er-Jahren errichtete Neue Gertraudenbrücke gehört wie die etwa 300 Meter Richtung Alexanderplatz gelegene Mühlendammbrücke zu einer zentralen Verkehrsade, die von Süd nach Nord die Berliner Stadtmitte durchschneidet. Fast 70.000 Kfz passieren sie derzeit täglich. Beide Bauwerke sind nicht sanierungsfähig und müssen abgerissen werden.

Über den Ersatz für die Neue Gertraudenbrücke wird seit Jahren gestritten. Teilnehmer der Akteurskonferenz berichten, die Gruppe um Petra Kahlfeldt habe stark für eine städtebauliche Lösung plädiert. Lutz Adam, Abteilungsleiter Tiefbau in der Senatsverkehrsverwaltung, sowie ADAC und IHK hätten stärker auf die Interessen des Verkehrs gerichtete Lösung vertreten. Letztere argumentieren, eine Reduzierung auf eine Autospur je Richtung reiche für den Verkehr nicht aus.

Nach der Prüfung die Ertüchtigung

Stefan Lehmkühler, der als Grüner den Bezirk Mitte im Abgeordnetenhaus vertritt, sieht das Dilemma zwischen den hohen Verkehrszahlen und der womöglich ungenügenden Statik der Alten Gertraudenbrücke – der „Richtigen“, wie er sagt – und begrüßt die Entscheidung, die Tragfähigkeit der 1894/95 gebauten massiven Gewölbebrücke durch ein unabhängiges Gutachten prüfen zu lassen. Er hofft, dass nach dem Tragfähigkeitsgutachten ernsthaft die Möglichkeiten zur Ertüchtigung der Brücke in Betracht gezogen werde – „natürlich unter Beachtung des Denkmalschutzes “, wie er sagt. Nun gebe es wieder „eine Perspektive nach vorn“. Der vom alten Senat beschlossene Ersatzneubau war als „Verkehrswende rückwärts“ kritisiert worden.

Der Verein Changing Cities hat für die Alte Gertraudenbrücke Vorstellungen entwickelt, wie sie nach einer Ertüchtigung für die Straßenbahn und jeweils eine Autospur pro Richtung plus ein etwa vier Meter breiter Fußweg zu nutzen wäre. Für einen komfortablen Radweg und einen weiteren Fußweg wird eine neu zu errichtende 7,4 Meter breite filigrane Brücke vorgesehen (siehe Animation).

Der Neubau eines breiten Betonbandes, das für die nächsten Jahrzehnte die städtebauliche Misere am Spittelmarkt fortschreiben würde, wäre damit vermieden. Neue Flächen für Häuser und Grünflächen würden am Spittelmarkt ebenso frei wie an der Spitze der Fischerinsel, die derzeit unter dem Beton der Straßenbrücke begraben liegt. Mit ihrer 22 Meter breiten Verkehrsfläche ist die Alte Gertraudenbrücke etwa so breit wie die schmalste Stelle der Leipziger Straße, an der sich die Durchlassfähigkeit ohnehin bemisst.

Ehpraim Gothe, SPD, als Baustadtrat von Mitte Teilnehmer der Akteursrunde, freute sich über ein „Senatorin, die sich aktiv eingebracht hat“. Der Berliner Zeitung sagte er: „Ich schöpfe Hoffnung, dass Aspekte des Städtebaus berücksicht werden, offen in Varianten gedacht, die Mobilitätswende ernst genommen und Partizipation gelebt wird.“

Kein Rangierbahnhof Spittelmarkt

Lob für in der Akteurskonferenz mitgeteilte Beschlüsse kam auch von der Interessengemeinschaft Leipziger Straße, in der sich Anwohner organisiert haben. „Es war eine erfreulich optimistische Runde“, sagte Vorstand Hendrik Blaukat am Mittwoch nach der Konferenz. „Konsens war, diesen Teil der östlichen Innenstadt vom Primat des Autoverkehrs zu befreien.“

Die jetzige Verkehrsschneise müsse verschwinden, der Bereich stadtverträglicher gestaltet werden. „So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Der Spittelmarkt muss wieder ein richtiger Platz werden.“ Dazu hätten sich auch die Senatsbaudirektorin und die Mobilitätssenatorin am Dienstag bekannt, so Blaukat. Dass mit der Ertüchtigung der Alten Gertraudenbrücke nun eine weitere Option geprüft werden soll, sei ein Schritt in die richtige Richtung.

Positiv vermerkte der Anwohnervertreter, dass es bei der Konferenz auch zu zwei anderen wichtigen Themen Neuigkeiten gab. So sei die Idee, die geplante Straßenbahnstrecke auf dem Mittelstreifen der Leipziger Straße mit einem dritten Gleis zu versehen, vom Tisch. „Den Rangierbahnhof Spittelmarkt wird es nicht geben“, sagte der Vereinsvorstand.

Die Straßenbahnplaner hatten erwogen, zwischen Spittelmarkt und Jerusalemer Straße ein Abstell- und Kehrgleis einzubauen. Im Schnitt sollte auf der Neubaustrecke nur jede zweite Bahn zum Potsdamer Platz fahren. Die übrigen Bahnen der M4 sollten ihre Fahrt bereits auf der Leipziger Straße beenden und von dort Richtung Osten zurückkehren. Damit sie den durchlaufenden Zügen nicht im Weg sind, würden sie auf dem Kehrgleis auf die Rückfahrt warten.

Dagegen hatte die Interessengemeinschaft protestiert. Die abgestellten Bahnen würden wie eine Barriere wirken, die das Wohnviertel, in dem mehr als 6500 Menschen leben, teilt. Wie berichtet hat der Verband angekündigt, Chancen einer Klage zu prüfen. Doch zu einem Gerichtsverfahren müsse es nun wohl nicht mehr kommen, sagte Blaukat am Mittwoch. Die 4,1 Kilometer lange Neubaustrecke der Straßenbahn, die vom Alexanderplatz zum Potsdamer Platz und zum Kulturforum führen soll, soll nach jetzigem Stand 65 Millionen Euro kosten.

Gute Chancen für Leipziger Park

Auch bei einem anderen Thema, das Anwohnern und Politikern am Herzen liegt, zeichnet sich ein Durchbruch ab. Das Stichwort lautet Leipziger Park, so der Vorstand der Interessengemeinschaft. „Die Senatorin steht auch dem Plan, einen Teil der Fahrbahnfläche in eine Grünfläche zu verwandeln, positiv gegenüber“, berichtete Hendrik Blaukat. Ein rund 15.000 Quadratmeter großer Park auf der heutigen nördlichen Hälfte der Leipziger Straße würde auch dem Plan entsprechen, Berlin zu einer klimaresilienten Stadt zu machen. Asphalt- und Betonflächen, die sich in den immer heißer werdenden Sommern aufheizen können, sollen in möglichst vielen Fällen durch Grünbereiche ersetzt werden, die kühlende Wirkung entfalten.

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