Großstadt, Weltstadt, Karstadt: Am Hermannplatz in Berlin stand einst das größte und modernste Kaufhaus Europas. Bis heute ist es geblieben, was es schon im Eröffnungsjahr 1929 war - ein krisengeschüttelter Palast des gehobenen Konsums.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.02.2022 von Andreas Schlüter

Weiß heute noch jemand, was Posamenten sind? In den Dreißigerjahren hingegen hätte es im Berliner Warenhaus Karstadt am Hermannplatz die selbstverständliche Antwort gegeben: "Posamenten für Kleidung finden Sie im Erdgeschoss und die für Möbel im zweiten Stock." Und hätte jemand diese Frage damals vielleicht in der Putz- (erster Stock) oder Spielwarenabteilung (vierter Stock) gestellt, dann wäre es theoretisch möglich gewesen, dass ein Fräulein Stein die gewünschte Auskunft gegeben hätte. Drei Jahre arbeitete Fräulein Stein, ihr Vorname war Ingeborg, als Putzmacherin und Spielzeugverkäuferin bei Karstadt am Hermannplatz. Ein heute recht zerfleddertes Arbeitszeugnis bescheinigt ihr ein "einwandfreies persönliches Verhalten" sowie, dass " der Austritt erfolgt, da Fräulein Stein zur Landhilfe geht".

Die Landhilfe war eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme der Nationalsozialisten, die dazu beitragen sollte, dass "sorgfältig ausgelesene Jungen und Mädels zu verantwortungsbewussten jungen Deutschen erzogen werden, die körperlich gestählt und charakterlich gefestigt von dem Willen erfüllt sind, im Beruf und an jeder Stelle einsatzbereit dem Volksganzen zu dienen". Mit einundzwanzig Jahren war Fräulein Stein fast schon etwas zu alt für dieses achtmonatige "Landjahr", doch wird man in der Personalabteilung der Rudolph Karstadt AG nicht unglücklich über ihr Ausscheiden gewesen sein.

Als das Warenhaus im Juli des Jahres 1929 eröffnet wurde, waren dreitausend Angestellte damit beschäftigt, die Kundenwünsche zu erfüllen; die Verkaufsfläche war doppelt so groß wie die des damaligen Kaufhaus des Westens oder die von Wertheim in der Leipziger Straße - eine Erfolgsgeschichte, die 1881 in Wismar mit einem "Tuch-, Manufactur-, und Confectionsgeschäft" ihren Anfang genommen hatte. Doch 1929 war das Jahr der beginnenden Weltwirtschaftskrise, und das junge Warenhaus am Hermannplatz musste in den folgenden Jahren zweitausend Angestellte entlassen.

Über den weiteren Lebensweg des aus Buchholz in der Nordheide stammenden Fräuleins Stein kann man nur spekulieren; allein ihr aus dem Internet herausgefischtes Arbeitszeugnis beweist, dass es sie gegeben hat. Auch eine weitere Trouvaille spülte die digitale Welt zurück in die reale Gegenwart. Der faltbare Werbeprospekt von Karstadt am Hermannplatz richtete sich weniger an die Berliner Kundschaft, sondern eher an die in- und ausländischen Gäste, die, zumindest bis zu den Olympischen Sommerspielen des Jahres 1936, die deutsche Hauptstadt zahlreich besuchten. Neben allerlei Informationen zu den Attraktionen des Warenhauses selbst gibt es Auflistungen der wichtigsten Berliner Sehenswürdigkeiten: Museen, Theater, Denkmäler und Bauten , auch die großen Berliner Fernbahnhöfe fehlen nicht.

An einem von ihnen, wahrscheinlich war es der Schlesische Bahnhof, das "Tor zum Osten", wird sich Fräulein Stein einst auf den Weg gemacht haben. Der landwirtschaftliche Arbeitsdienst der deutschen Jugend fand vor allem in den östlichen Provinzen des Reiches statt. Keiner dieser einstmals großen Bahnhöfe hat den Zweiten Weltkrieg unbeschädigt überstanden, die meisten von ihnen sind heute komplett aus dem Berliner Stadtbild verschwunden. Aus dem eigentlich recht banalen Kaufhausprospekt mit seinen zackigen Überschriften in Sütterlin wird schnell ein zeithistorisches Dokument. Es ist seltsam und auch berührend, unter den hier genannten Museen in nüchterner Selbstverständlichkeit den Namen "Schlossmuseum" mit der Anschrift "Schlossfreiheit" aufgelistet zu sehen. Gemeint ist das ehemalige Residenzschloss der Hohenzollern, einer der bedeutendsten Barockbauten des alten Europas; historisches Zentrum Berlins , während der Weimarer Republik das meistbesuchte Museum der Stadt, später als Kriegsruine spektakulär gesprengt und jüngst, unter dem Namen Humboldt-Forum, unter allerlei Kulissenzauber wieder auferstanden. Damals, als dieser Prospekt "zum kostenlosen Besuch des Dachgartens berechtigte", die Musikkapellen spielten und Kellnerinnen mit weißen Spitzenhäubchen Kaffee und Kuchen servierten, konnten die Gäste aus zweiunddreißig Meter Höhe ein einzigartiges Großstadtpanorama überblicken; auch die Kuppel des Stadtschlosses wird, zumindest von den beiden die Terrasse flankierenden Türmen aus, bei gutem Wetter zu sehen gewesen sein.

Die Nationalsozialisten sahen in den Warenhauskonzernen eine Gefahr für den Einzelhandel und somit für die deutsche Volkswirtschaft. Es gab in der NSDAP eine "Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumvereine", für die ein Dr. Gerber im Jahr 1932 einen dreißigseitigen Aufsatz schrieb. Auf der Umschlagsabbildung in expressionistischem Schwarz-Weiß umklammert die skelettierte Hand einer vermummten Gestalt städtische Wohnhäuser, während im Hintergrund die Ruine von Karstadt am Hermannplatz in den Himmel ragt. Dreizehn Jahre später, im April 1945, sollte dieses Bild dann Wirklichkeit werden. Der Text von Dr. Gerber ist nicht weniger reißerisch als die Titelgestaltung seines Pamphlets. "Mit dem größten Raffinement wird das unbesonnene und unnachdenkliche Volk in die Trödelpaläste gelockt", schreibt der Autor. Er beklagt den "Sportfimmel verblödeter Jugendlicher" und im Besonderen den Bau von Karstadt am Hermannplatz: "Mitten in einem Arbeiterviertel, dessen Bewohner eben gerade noch das Dasein fristen, deren Elend zum Himmel schreit, erhebt sich dieses Monstrum von einem Würge-Palast, fast abseits vom Verkehr der Großstadt! Nur zur Hälfte in Gebrauch genommen, wartet die andere Hälfte darauf, das der über ihr kreisende Pleitegeier den schon mit den Anzeichen der Verwesung behafteten anderen Teil bald aufgefressen haben wird."

Tatsächlich war der Bau des Warenhauses am Hermannplatz, einem Platz, den es zuvor nicht gegeben hatte, einzigartig in der ohnehin rasant verlaufenden Berliner Baugeschichte dieser Jahre. Am Schnittpunkt zweier U-Bahn-Linien entstand zwischen Kreuzberg und Neukölln das modernste Warenhaus Europas, ein Unternehmen der Superlative: 72 000 Quadratmeter Verkaufs- und Servicefläche auf fünf Stockwerken, insgesamt neun Etagen, zwei davon unterirdisch; dann die Dachterrasse, darauf die beiden jeweils vierundzwanzig Meter hohen Ecktürme, zusätzlich überragt von fünfzehn Meter hohen Lichtsäulen, zweiundzwanzig Personenfahrstühle, etwa ebenso viele Rolltreppen, dreißig Schaufenster, Friseure, eine Bäderabteilung mit Wannen- und Duschbädern, ein Reisebüro, direkter Zugang zum U-Bahnhof, zwei Dachhallen mit Restaurants für mehr als zweitausend Gäste und dann der Autolastenaufzug, der einen tonnenschweren Lkw direkt in die Lebensmittelabteilung des fünften Stocks hochfahren konnte.

Der Architekt des Gebäudes, das inmitten der gründerzeitlichen Bebauung Neuköllns und Kreuzbergs wie ein futuristischer Fremdkörper wirkte, war Philipp Schaefer, über Jahrzehnte hinweg der Hausarchitekt des Karstadt-Konzerns. Um die Großzügigkeit und Bequemlichkeit der verschiedenen Treppenhäuser unter Beweis zu stellen, ritt die damals populäre Schauspielerin und Akrobatin Cilly Feindt mit ihrem Schimmel bis zur Dachterrasse hinauf. Unter den vielen bekannten Tanzorchestern, die hier oben gastierten, waren die Weintraub Syncopators mit Friedrich Hollaender am Klavier wohl die populärsten. Die Gestaltung und Pflege des schnell zur Attraktion gewordenen Dachgartens hatte die Späth'sche Baumschule übernommen, ein Berliner Traditionsunternehmen mit weltweitem Ansehen. Von hier oben, inmitten üppiger Blumenbeete, schrieb im Juli 1932 eine überwältigte Besucherin eine Ansichtskarte an ein "liebes Gretel" in Dresden: "Nach diesem umstehenden Wolkenkratzer zu urteilen wirst Du denken, ich bin in Amerika, aber meine Grüße kommen nur aus Berlin."

"Großstadt, Weltstadt, Karstadt", dieser selbstbewusste Slogan entsprach zwar der luxuriösen Modernität des Hauses am Hermannplatz, die wirtschaftliche Situation des Konzerns jedoch war so desolat, dass tatsächlich immer wieder ganze Etagen geschlossen werden mussten. Von den sechsundachtzig deutschen Karstadt-Kaufhäusern machten im Jahr 1931 dreißig Häuser Verluste, wobei das Haus am Hermannplatz mit einer Million Reichsmark an der Spitze stand.

"Jedes Haus, das nicht die Hoffnung bietet, weiter rentabel zu arbeiten, soll rücksichtslos geschlossen werden", beschloss der Vorstand. Im Frühjahr 1933 war der Konzern praktisch zahlungsunfähig und hatte Verpflichtungen in Höhe von 154 Millionen Reichsmark. Nur um einen folgenschweren Konkurs des Unternehmens mit seinen zwanzigtausend Angestellten zu verhindern, genehmigte die neue nationalsozialistische Regierung Übergangskredite. Parallel dazu wurde das Unternehmen arisiert, sämtliche jüdische Angestellte, auch die in Führungspositionen, wurden nach dem 1. April 1933 entlassen.

Zwölf Jahre später und ebenfalls im April war die Reichshauptstadt eine Trümmerwüste, doch am Hermannplatz stand gänzlich unbeschädigt als monumentaler Rest aus einer anderen Zeit das Karstadt-Warenhaus. Während des Krieges war ein Großteil des Hauses an das Heeresbekleidungsamt vermietet gewesen. Die eleganten Tanz-Tees oben auf der Terrasse waren nur noch Erinnerung, die Rolltreppen und Fahrstühle standen still, der Dachgarten war verwildert, der Verkauf eingestellt, und die dreißig Schaufenster waren mit Holzbrettern vernagelt. In den Kellergeschossen lagerten Lebensmittelvorräte der SS.

Der Hermannplatz gehörte zu den ersten innerstädtischen Orten Berlins, die von russischen Artilleriegranaten erreicht wurden. Tagelang dauerten die Straßenkämpfe, bis am 27. April russische Panzer auf den Platz rollten. Da war das Karstadt-Gebäude aber nur noch ein Trümmerhaufen; zwei Tage zuvor hatte es ein SS-Kommando in die Luft gesprengt, damit die Lebensmittelvorräte nicht in Feindeshand gerieten. Wenn man heute in nur noch siebzehn Meter Höhe auf der Terrasse von Karstadt am Hermannplatz sitzt, scheint die Geschichte dieses Hauses eher Roman als Wirklichkeit zu sein.

Nur sechszehn Jahre lang, zwölf davon wehten Hakenkreuzfahnen über den beiden Türmen, existierte diese Warenhauslegende, und das vor allem als Touristenattraktion. Der Höhepunkt in der kurzen Geschichte von Karstadt am Hermannplatz war zweifellos der Sommer 1936, als ein riesiges Banner mit den olympischen Ringen an der Fassade hing, ein internationales Publikum die Cafés und Restaurants frequentierte und man sich vielleicht der Illusion hingab, dass doch noch alles gut werden würde.

Allerdings gab es, man möchte es nicht für möglich halten, schon im Juli 1945 einen bescheidenen Neuanfang. Ein kleiner Rest des Gebäudes war samt Fassade an der westlich liegenden Hasenheide erhalten geblieben. Hier, inmitten von Trümmern und Schutt, führte das einst modernste Kaufhaus Europas seine Geschäfte fort. Im Jahr 1950, die Trümmer sind weggeräumt, entsteht an der Ecke Hasenheide und Hermannplatz dann ein vierstöckiger Neubau und irgendwann auch wieder eine Terrasse, was eine Ansichtskarte aus dem August 1965 belegt. Vom Flair des einstigen Dachgartens, der Eleganz des Ambientes, den Späth'schen Blumenbeeten und der expressiven Modernität der einst beleuchteten Türme war nicht einmal mehr etwas zu erahnen. Bundesrepublikanisch schlicht war die Möblierung, kein Tanzorchester spielte mehr auf, und die einzige Geräuschkulisse war die des Straßenverkehrs auf dem Hermannplatz.

Im Jahr 1998 wurde dann noch einmal ein dreistelliger Millionenbetrag in das Haus investiert. Aktuell gehört Karstadt am Hermannplatz zur österreichischen Signa Holding GmbH und heißt auch nicht mehr Karstadt, sondern Galeria. Nachdem die Pläne für Abriss und Wiederaufbau samt Rekonstruktion der ehemaligen Art-déco-Fassaden durch das Architekturbüro von David Chipperfield endgültig gescheitert sind, verspricht die Signa-Gruppe nun eine "Neugestaltung ohne Abriss" sowie eine "Neuinterpretation der identitätsstiftenden Architektur des historischen Gebäudes". Ein "internationales Leuchtturmprojekt für nachhaltige Immobilienentwicklung" soll dieses neue Gebäude werden, wobei das zukünftige Kaufhaus nur einen Teil bespielen wird. Bezahlbarer Wohnraum, Flächen für das Gemeinwohl sind angekündigt, und auch die Dachterrasse soll wieder in den alten Dimensionen entstehen. Kritische Stimmen, und die sind in Neukölln und Kreuzberg zahlreich, befürchten hingegen eine weitere Gentrifizierung ihrer Stadtteile. Und "identitätsstiftend" war das alte Karstadt-Kaufhaus am Hermannplatz wohl kaum jemals. Gerade im schnelllebigen Berlin sind sechzehn Jahre eine überschaubare Zeitspanne.

Inmitten eher kleinbürgerlicher, wenn nicht proletarischer Wohnviertel wirkte das Warenhaus von Beginn an wie ein großer architektonischer Irrtum am falschen Ort. Unter unternehmerischen Gesichtspunkten, so analysiert und urteilt der Politikwissenschaftler Rudolf Lenz in seinem Buch über den Karstadt-Konzern, war der Bau des Karstadt-Hauses am Hermannplatz eine kapitale, ja fast Hasardeur hafte Fehleinschätzung damaliger Realitäten.

Bevor nun demnächst ein neues Kapitel in der Geschichte von Karstadt am Hermannplatz beginnt, kann man noch einmal durch die Etagen spazieren. Posamenten, heute sagt man Bordüren und Borten, gibt es nicht mehr, dafür aber sonst eigentlich alles. Man mag Kaufhäuser meiden, sie tatsächlich für Trödelpaläste oder klimatisierte Luxusmalls halten, in denen schlichtes Einkaufen zum Event werden soll; im Karstadt am Hermannplatz aber ist alles anders. Im Gegensatz zu dem berühmteren Ka De We in Schöneberg war dieses Kaufhaus inmitten der Kreuzberger und Neuköllner Kieze immer auch ein Kaufhaus der kleinen Leute. Das ist bis heute noch so, und diese alltägliche Normalität, gerne auch etwas berlinerisch robust, ist durchaus sympathisch.

Die Auswahl an künstlichen Blumen ist bemerkenswert und die Existenz einer Zoo-Abteilung fast schon unglaublich. Unberührt von jeder Pandemie, ziehen hier die Schleierkampffische ihre Runden, die blauen Exemplare zum Preis von 14,90 Euro und die roten für 7,90 Euro. Gleich daneben knabbern ein paar Griechische Landschildkröten an Salatblättern. Wellensittiche zwitschern vor sich hin, und die Verkäuferinnen sind von jener direkten Zugewandtheit, wie es sie so nur in Berlin geben kann. In der bestens sortierten Haushaltswarenabteilung hört man erfreut ein "Ham wa nich jibt es nich!" des Verkäufers.

Und dann gibt es ja auch noch das Restaurant. Melancholie hängt unsichtbar, aber bleischwer in der Luft, und hier kann es immer noch passieren, dass bunte Papierschirmchen die Quarkspeisen schmücken oder die Kugeln im Eisbecher unter einem Gletscher aus Eierlikör verschwinden. Die voranschreitende Gentrifizierung von Neukölln und Kreuzberg führt schon jetzt zu spürbaren sozialen Verwerfungen. Auch Karstadt am Hermannplatz wird sehr bald nur noch Vergangenheit sein. Zumindest hat der Schriftsteller Hilmar Klute mit seinem Roman "Was dann nachher so schön fliegt" diesem Warenhaus und vor allem der Terrasse zu ein wenig Unsterblichkeit verholfen. Und ja, da ist sie, die berühmte Terrasse. Fünfzehn Meter unter dem ursprünglichen Niveau. Das kann nun auch kein Zufall sein. Von hier aus wehten einst die Melodien Friedrich Hollaenders hinaus in die Berliner Luft. An kaum einem anderen Ort lässt es sich besser über Berlin nachdenken. Dieser gewaltigen Stadt, die dort unten vor sich hin brodelt. Dabei kann einem manchmal auch etwas schwindlig werden.

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