Nie zuvor durften sich die Bürger von Staats wegen so sehr an Politik beteiligen wie heute. Doch viele Dialogformate sind nur Schein.
Süddeutsche Zeitung vom 7.1.2017 - von M. Bauchmüller

Der 26. Oktober 2016 war kein besonders aufregender Tag. Greuther Fürth schmiss Mainz aus dem DFB-Pokal. In Italien bebte wieder die Erde, aber nur leicht. Apple meldete sinkende Umsätze, das Kabinett erhöhte den Mindestlohn um 34 Cent. Ach ja, und dann beschloss die Bundesregierung auch noch dieses 241-Seiten-Papier: den Bericht "zur Lebensqualität in Deutschland". Kaum jemand nahm Notiz davon.

Niemand hat je gezählt, wie viele Stunden Lebenszeit hinter diesen 241 Seiten stecken, ob bezahlte oder unbezahlte Zeit. Das ganze Kabinett, bis hinauf zur Kanzlerin, reiste quer durch die Republik, um sich die Sorgen und Belange der Bürger anzuhören. 16 000 Bundesbürger brachten sich in irgendeiner Form ein. Bei Workshops konnten Bürger auf bunten Kärtchen hinterlassen, was ihnen besonders wichtig ist, worin für sie "Lebensqualität" besteht. Soziologen nennen die Verfahren "Metaplan" oder "World Café". Am Ende gab es Fotos von Tausenden bunter Kärtchen, sorgsam dokumentiert und für jeden einsehbar - und ganz am Ende einen 241-seitigen Regierungsbericht, über den kaum einer spricht. Still verabschiedet an einem Mittwoch im Oktober.

Willkommen im bunten, verheißungsvollen Reich der Bürgerbeteiligung. Im Märchen von Einfluss und Mitsprache.

Einen ganzen Abschnitt ihres Koalitionsvertrages haben Union und SPD der Bürgerbeteiligung gewidmet. "Wir wollen (...) die Beteiligungsmöglichkeiten für die Menschen an der politischen Willensbildung ausbauen", heißt es da. Man suche den "Sachverstand und die Meinung der Bevölkerung", sodass "konstruktive und frühzeitige Einflussnahme" besser gelinge. Die Koalitionspartner standen damals noch ganz unter dem Einfluss der Proteste gegen den Bahnhof Stuttgart 21, der "Wutbürger" musste irgendwie gezähmt werden. Das sollte gelingen, indem man ihm mehr zuhört.

Die Kanzlerin war überrascht, dass so viele mitdenken und mitmachen wollen
Keine schlechte Idee, eigentlich. In Zeiten, in denen sich "die da oben" scheinbar vom Fußvolk entfremden, in denen sich die Komplexität so mancher Probleme kaum noch vermitteln lässt, ist miteinander reden ein guter erster Schritt. Zumal so mancher Bürger etwas beizusteuern hätte zum politischen Prozess: andere Perspektiven. Auch der Dialog zur Lebensqualität ("Gut leben in Deutschland") zählte zu dem Programm. "Ich persönlich war überrascht", so bekannte die Kanzlerin nach ihrer Reise an die Basis, "dass es viele Menschen gibt, die einfach mitdenken und wollen, dass möglichst viele am gesellschaftlichen Leben teilhaben können."

Einfach mitdenken, mitmachen, das können mittlerweile Menschen bei verschiedensten Fragen. Als die Bundesregierung einen Aktionsplan ersann, der Wirtschaft und Menschenrechte in Einklang bringen soll, lud sie dafür zu drei Versammlungen. Ein Weißbuch zur Zukunft der Arbeit entstand nach einem groß angelegten "Dialogprozess", zu Tausenden gaben Bürger an, wie sie sich die Arbeit in Zeiten der Digitalisierung vorstellen. Und dann?

Bürgerbeteiligung ist ein großes Wort. Es nährt die Hoffnung, der Einzelne könne sich über das sonst übliche Maß einbringen, er könne zu einem kleinen, aber nicht völlig bedeutungslosen Rädchen im Regierungsgetriebe werden. Für Regierungen hat sie auch einigen Reiz: Umstrittene Vorhaben lassen sich leichter legitimieren, wenn dahinter plötzlich jene Tausende stehen, die zuvor ihre Freizeit geopfert haben, die Kärtchen ausfüllten oder Online-Eingaben abschickten. Auch versprechen die vielen verschiedenen Beteiligungsformate mehr Akzeptanz bei jenen, die daran teilgenommen haben; schließlich mussten die sich eingehend mit Fragen beschäftigen, die sie im Alltag sonst nur streifen. Wenn es denn um echte Beteiligung geht.

Wie sehr das in die Hose gehen kann, auch das hat die Koalition vorgemacht. Fast ein Jahr beschäftigte sie interessierte Bürger und Verbände mit einem Plan für den Klimaschutz. In verschiedenen Foren konnten sie darüber diskutieren, wie sie sich ein sauberes Deutschland langfristig vorstellen. Per Telefon wurden fast 500 Bürger dazu gebracht, bei öffentlichen Veranstaltungen zum Thema aufzukreuzen. Teilnehmer und Beobachter bewerteten den ganzen Prozess als vorbildlich: Die Menschen brachten tatsächlich Ideen mit, aus diesen Ideen destillierten Moderatoren einen Plan, und dieser Plan schließlich mündete in einen Regierungsentwurf. Selten wurden Bürger so systematisch in die Erarbeitung einer solchen Vorlage einbezogen. Dann kam die Regierung dran.

Eine Regierung arbeitet nach anderen Prinzipien als ein Dialogforum. Die nächste Wahl im Blick, gebunden durch einen Koalitionsvertrag und die Vertreter unterschiedlichster Interessen im Nacken, setzt sie andere (nicht immer klügere) Schwerpunkte. So auch beim Klimaschutzplan. Den so mühsam erarbeiteten Entwurf bekam dann das Wirtschaftsministerium in die Finger, anschließend war er deutlich industriefreundlicher. Das Kanzleramt sorgte dafür, dass auch die Belange der Landwirte und Autofahrer Berücksichtigung fanden, Parlamentarier mischten ebenfalls mit. Als der Plan schließlich das Kabinett passierte, war von den Ideen der Bürger nicht mehr viel übrig.

Wie paradox: Diese Bürgerbeteiligung entfremdet die Bürger mehr von der Regierung, als sie für Politik werben kann. "Es frustriert die Beteiligten, es demotiviert im Hinblick auf künftige Beteiligungsangebote, und es untergräbt das ohnehin erheblich gestörte Vertrauen in die politischen Organe und das politische Personal", befand der Soziologe Dieter Rucht über die angebliche "Teilhabe" am Klimaschutzplan. Auch Dialogformate nach dem Vorbild von "Gut leben in Deutschland" entpuppen sich bei näherer Betrachtung als reine Illusionskunst: Da verwenden Menschen viel Zeit auf einen Bericht, der letztlich in den Kabinettsarchiven verstauben wird. Die wesentliche Erkenntnis, eine neue Art der Wohlstandsmessung, hätte sich auch per Umfrage ermitteln lassen. Nur hätten die 16 000 beteiligten Bürger nicht ganz kurz das Gefühl gehabt, mehr zu zählen als nur die übliche Stimme bei der nächsten Wahl.

Eine vom Staat organisierte, aber zugleich effektive Bürgerbeteiligung - wie soll das gehen? Für Gesetze sind in einer repräsentativen Demokratie Abgeordnete zuständig, nicht wie immer geartete Beteiligungsformate. Die Bürgerbeteiligung setzt daneben ein scheinbar basisdemokratisches Element, das die Verfassung nicht vorsieht; zumal die teilnehmenden Bürger ihrerseits durch nichts und niemanden legitimiert sind. Dieser Widerspruch lässt sich nur schwer aus der Welt schaffen, schon gar nicht auf Ebene gesamtstaatlicher Entscheidungen. Viele der von Staats wegen aufgeworfenen Fragen liegen obendrein außerhalb der Lebenswirklichkeit der meisten Bürger. Sie bleiben abstrakt. Das erklärt, weshalb der mit viel Aufwand aufgezogene Dialog zur Endlagersuche nur eine klitzekleine Öffentlichkeit anzog: Schließlich sind auch Vorarbeiten für ein künftiges Atommülllager kaum greifbar, solange keine konkreten Orte feststehen. Sobald aber Standorte in die engere Wahl kommen, werden aus Bürgern potenziell Betroffene - und ihre Beteiligung wird nicht lange auf sich warten lassen. Ganz freiwillig, und vermutlich nicht allein über Formate, die der Staat organisiert. Widerstand organisiert sich unabhängig. Und er entsteht dort, wo sich reale Betroffenheit anbahnt. Das liegt in der Natur der Sache. Denn die unmittelbare Politikerfahrung der meisten Menschen liegt eben nicht in der Messung von Lebensqualität, nicht in abstrakten Kriterien für ein Atommülllager oder in fiesen Menschenrechtsverstößen deutscher Unternehmen im Ausland: sondern direkt vor der eigenen Haustür. Echte Bürgerbeteiligung müsste hier anfangen, bei der Planung regionaler Infrastruktur, bei Bebauungsplänen, bei Entscheidungen über die Zukunft von Krankenhäusern, Schulen, Altenheimen, öffentliche Daseinsvorsorge. Hier, wo Politik den Einzelnen direkt betrifft, beginnt eigentlich die Entfremdung.

Drei Thesen

Echte Teilhabe muss da anfangen, wo es die Menschen betrifft: vor der Haustür
Denn wo die Gesetze eine öffentliche Beteiligung vorschreiben, werden die Einwände betroffener Bürger allzu oft kommentarlos abgeheftet. Häufig fehlt den zuständigen Genehmigungsbehörden schlicht das Personal, sich mit allen Belangen auseinanderzusetzen - geschweige denn, wirklich ergebnisoffene Bürgerdialoge zu organisieren und auszuwerten. Dann braucht es schon einen organisierten Aufstand, um tatsächlich Dinge zu bewegen. Es sind jene Aufstände, in denen aus einfachen Bürgern plötzlich "Wutbürger" werden; der Protestwähler ist ein Verwandter ersten Grades.

Jede ernsthafte Beteiligung von Bürgern aber setzt die Bereitschaft voraus, die Dinge auch ganz anders zu regeln als gedacht. Sie verlangt also nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch eine offene Planung. Netzbetreiber oder Industriebetriebe haben damit gute Erfahrungen gemacht. Wo immer sie Bürger frühzeitig in die Planung einbezogen - und das auch mit der Bereitschaft, auf deren Belange einzugehen -, verliefen Gespräche konstruktiver, ließen sich Vorhaben am Ende einfacher verwirklichen. Eine gut vorbereitete Einbeziehung von Bürgern mag eine Menge Zeit kosten. Sie spart aber den Beteiligten oft das Wiedersehen vor Gericht und damit Zeit, Nerven und Verdruss.

Diese Offenheit allerdings muss sich Politik erarbeiten. Der Zweck einer Bürgerbeteiligung darf es eben nicht sein, Vorhaben nur irgendwie zu legitimieren oder Akzeptanz für umstrittene Projekte zu beschaffen. Denn wer Akzeptanz sucht, der hat die Pläne schon geschmiedet, der will sie nur möglichst reibungsfrei durchbringen. Es geht also um "konstruktive und frühzeitige Einflussnahme", eben jene Idee, die Union und SPD in den Koalitionsvertrag schrieben, aber doch nicht leben. Wollte die Koalition damit ernst machen, müsste sie einen Raum für Kompromisse gewähren; einen Raum, den die Regierungsgeschäfte selten lassen. Wenig lässt Widerstände so verlässlich entstehen wie das Gefühl, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

Nur eins ist schlimmer: Wenn Bürgern zuvor auch noch vorgegaukelt wurde, sie hätten mitreden dürfen.

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