Berliner Zeitung vom 09.04.2016 - von Harald Jähner

Oben hui, unten naja. Zwischen Fernsehturm und Rathaus befindet sich eine Berührend ratlos präsentiert sich Berlin in seiner historischen Mitte. Zwischen dem Roten Rathaus, der Schlossbaustelle, dem Alexanderplatz und der Karl-Liebknecht-Straße gähnt eine fast leere Fläche. Irgendein seltsamer Regisseur hat sie wie auf einer gigantischen Bühne dort zusammengeführt: den schlanken, 368 Meter hohen Fernsehturm und die Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert. Beide, Fernsehturm wie Kirche, stehen in besonderer Beziehung zum Himmel. Beide senden Botschaften aus. Sie stehen dort als starke Zeichen gegensätzlicher Welten und entfernter Epochen. Dazwischen und drumherum hat man irgendwas angeordnet: Treppen, Lampen, Wasserkaskaden mit immerhin 560 Düsen, ein bisschen Struktur halt. Man muss ja Gestaltungswillen zeigen.

Nur das Klohaus glänzt
Irgendwo in der Weite verliert sich der Neptunbrunnen mit seinen bauchigen Figuren und den vier pfundigen Bronzeweibern, die die wichtigsten deutschen Flüsse verkörpern. Ein paar Bäume gibt es und das Denkmal von Marx und Engels, Marx sitzend, Engels stehend. Zurzeit sind beide an den Rand geschoben wegen des U-Bahnbaus.  Wenn man dort von den Bäumen aus zum Roten Rathaus schaut, liest man auf dem Dach eines runden, flachen Gebäudes ganz groß „City-WC“. Man kann darüber lachen, sollte es aber nicht, denn das Ding ist toll. Das einzige, was hier derzeit so richtig funktioniert. Geräumig, großzügig und umwerfend sauber. Alles glänzt. Es gibt sogar ein Wickeltisch. Damit die Babys nicht herunterfallen, hat die weiche Unterlage hochgewölbte Kanten. Das Klohaus ist, hat man sich erstmal hinein getraut, ein Hort der Gastlichkeit. Das ist für ein Klo eine geradezu überirdische Leistung. Leider wird es zu selten gewürdigt, denn eine Benutzung kostet 50 Cent. Zuviel für die meisten Langzeitgäste des Platzes.
Obdachlose und junge Treber werden von solch zugigen Orten, wie der Platz vor dem Rathaus einer ist, magisch angezogen.  Ähnliche Reize üben Zentralbahnhöfe aus. Man ist mitten in der Stadt und doch in einem magischen Loch, wo es aus ihr hinausgeht. Weit in die Ferne, oder, wie hier, nach oben, Richtung Fernsehturm, ins Nirgendwo.

Es ist weiß Gott kein schöner Platz, aber ein faszinierender. Man spürt die historischen Gewalten, die hier Tabula rasa gemacht haben und diese oberflächlich aufgehübschte Riesenbrache geschaffen haben. Man muss seine ganze Fantasie zusammennehmen, um sich vorzustellen, dass hier vor dem Zweiten Weltkrieg 140 Grundstücke waren, bebaut vor allem mit Wohn- und Geschäftshäusern. Dass hier der Kern des mittelalterlichen Berlins lag, das zusammen mit Cölln gleich gegenüber auf der anderen Seite der Spree, eine Doppelstadt bildete. Und dass die Rathausstraße damals im Mittelalter, als sie noch Oderberger Straße hieß, die Hauptstraße Berlins war.

Heute ist die Gegend eine Stätte der Amnesie, gebauter Gedächtnisverlust. Das schönste Symbol für diesen Zustand ist ein kleiner Volleyballplatz, direkt vor dem Rathaus der Stadt. Er sieht aus, als hätte er sich aus einer randständigen Grünanlage irgendeiner Kleinstadt aufgemacht und wäre hierher gewandert an den der Lage nach prominentesten Ort der Hauptstadt. Um adrett zu wirken, hat er sich ein wenig diagonal aufgestellt, vielleicht auch nur, damit es nicht so aussieht, als gehöre er für immer hierhin. Die Jugendlichen mögen das Spielfeld, im Sommer wird es sozialarbeiterisch betreut, bei Dunkin’ Donuts kann man sich Bälle ausleihen, in der Kirche St. Marien eine Sporttasche. Für sowas muss man Berlin einfach lieben.

Aber kann es so weitergehen mit der leeren Mitte der Stadt? Nach dem Fall der Mauer schlugen besonnene Geister vor, mindestens eine Generation zu warten, bevor man eine Entscheidung trifft, was man mit ihr anfangen soll. Also abwarten und ein Gefühl dafür entstehen lassen, was die Stadt an dieser Stelle wirklich braucht.

Mit dieser eigentlich klugen Strategie, für die Regula Lüscher, die Senatsbaudirektorin, schon als „Herrin der Brachen“ verspottet wurde, ist es vorbei. Denn mit der in Aussicht stehenden Fertigstellung des Humboldt-Forums gerät die Sache unter Zeitdruck. Es ist wie bei der Renovierung einer Wohnung. Hat man erst mal mit einem Zimmer begonnen, sieht der Rest plötzlich noch schäbiger aus.  Wenn jetzt nicht bald ein Konzept beschlossen wird, dann wird das Areal auf
ungesteuerte Weise mal hier, mal da in Angriff genommen. Zumal das Humboldt-Forum, typisch berlinisch, schon mal als „wichtigste kulturpolitische Baumaßnahme des Jahrhunderts“ ausgerufen wurde. Die Großmannssucht gehört eben genauso zum Berliner wie die Sache mit dem Volleyballfeld – es sind zwei Seiten eines Charakters.  Jedenfalls ist der vom neuen Schloss ausgehende Druck zur Aufwertung der Umgebung derart groß, dass kein Verantwortlicher es sich leisten mag, sie noch Jahre im Zustand dieser Verlegenheit zu belassen.

Senat bittet Bürger um Hilfe
Was aber tun? Dass hier so lange nichts Grundlegendes passiert ist, hat in Wahrheit ja wenig mit kluger Besonnenheit zu tun, sondern damit, dass zwei ideologische Lager sich in einer unbeweglichen  Frontstellung festgebissen haben: die Bebauer und die Freihalter. Die Bebauer wollen die alte Kernstadt in ihren Grundrissen wieder rekonstruieren, sei es mit neuen Gebäuden oder, wie die ganz harten Nostalgiker es verlangen, mit weiteren Rekonstruktionen historischer Bauten. Sie wollen das Areal dicht bebauen, weil Berlin die städtebaulich spürbare Erinnerung an die einstige Mitte brauche, um wieder eins zu werden mit sich.

Das andere Lager, die Freihalter, will die Fläche als Zeugnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts bewahren und weiterentwickeln. Es reiche, wenn andere Bereiche der historischen Altstadt wie der unter der Kreuzung Grunerstraße/Spandauer Straße verschwundene Molkenmarkt in den alten Grundrissen neu bebaut würden.

Um die Debatte aus dem Patt der beiden Lager herauszuführen, bat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung den Bürger um Hilfe. Unter dem Slogan „Alte Mitte – Neue Liebe?“ wurde im vergangenen Jahr versucht, über acht Monate hinweg eine Diskussion innerhalb der Bürgerschaft zu entfachen. Eine Agentur wurde beauftragt, Podiumsdiskussionen veranstaltet, der Zaun der Baustelle für die U 5 mit Mitmachplakaten gepflastert.

Die Senatsverwaltung wollte unter den Bürgern eine Diskussion über  die Fläche entfachen. Es äußerten sich vor allem Anwohner, und die sind  mit dem Platz weitgehend einverstanden.
Allein, der Bürgerwille äußerte sich nur mit schwachem Stimmchen, von einem Willen kann kaum die Rede sein, eher von einer Stimmung. Zudem meldete sich der Bürger vor allem in Gestalt des Anwohners. Und der ist mit dem Platz buchstäblich im Großen und Ganzen einverstanden, mehr Bänke vielleicht, etwas Grün, mehr Sauberkeit und strengere Beaufsichtigung der Hallodris. Bloß nichts, was die Gegend teurer macht. Der Rest der Berliner wird – abgesehen von den Altstadtfreunden – von der lakonischen Leere des Platzes anscheinend zur Passivität genötigt. Wie in dem Youtube-Hit mit Kazim Akboga als U-Bahn-Kontrolleur sagt er: Is’ mir egal.

Gewonnen hat im „Bürgerdialogverfahren“ das Lager der Freihalter. Die unterlegenen Bebauer fordern eine neue Debatte, weil sie den Dialogprozess für manipuliert, oberflächlich und fehlinformiert halten. Der Stadthistoriker Bernhard Goebel empfand das Abschlussforum des Bürgerdialogs als „Kindergarten“ : „unernst, uninteressant, ungeeignet und fachlich schwach“. Der Kindergarten führte nichtsdestotrotz zur Formulierung von zehn Leitbildern, die dem Senat übergeben wurden.

Eine dichte Bebauung wird darin abgelehnt, die Erinnerung an die verschwundene Altstadt soll nicht durch Nachbauten, sondern durch Informationstafeln, archäologische Fenster im Pflaster und  eine Ausstellung gewährleistet werden. Natürlich sollen die Grünflächen schöner werden und das Spreeufer ein tolles Erlebnis. Die sogenannten Wasserkaskaden am Fernsehturm wollen die beteiligten Bürger unbedingt behalten. Die Berliner Mitte soll ein „öffentlicher, nichtkommerzieller Ort“ bleiben. Nebulös ist die  Leitlinie Nummer drei. Sie lautet: „Die Berliner Mitte, insbesondere der Platz vor dem Berliner Rathaus, öffnet sich als Ort der Demokratie für politische Debatten.“ Ist aber nicht jeder öffentliche Ort in Deutschland ein „Ort der Demokratie“?

Mehr gesellschaftliche Spielfläche sein
Um die Gestaltungsaufgabe genauer zu fassen, trafen sich Mitte März Vertreter der parteinahen Stiftungen mitsamt den Kombattanten des Kampfes um die Mitte. Zu Beginn des Abends in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschwor der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba das Potenzial des Raumes als eine künftige „Bühne der urbanen Verhandlungsgesellschaft“.
Diese verlange nach Orten zur Aushandlung von Konflikten. Für die heutige Zeit, in der Flanieren und Protestieren Hand in Hand ginge, siehe Christopher Street Day, sei der Platz neu zu gewinnen. Vor einem historischen Bild des Marktplatzes vom badischen Lörrach während der Revolution von 1848, sagte Kaschuba, Stadtgesellschaften ohne Mitte seien zivilisationsgesellschaftlich tot. Mit mehr Sinn fürs Konkrete assistierte ihm die Linken-Abgeordnete Katrin Lompscher: Man hätte ja nicht mal mehr einen Platz zum Abstellen der Transparente. Früher hätte man das Demozubehör in den Sockelbauten des Fernsehturms verstauen können.

Um das gewaltige Ausmaß der anstehenden Aufgabe zu skizzieren, provozierte der Stadtplaner Urs Kohlbrenner mit der Skizze eines sich über das ganze Areal erstreckenden Daches zur Beschirmung des Volkes und erntete dafür die Verachtung der Vertreter historischer Wohlproportioniertheit. Es scheint, als solle dem meist unbeachtet am Rand stehenden Roten Rathaus ein nimmermüde nach Teilhabe rufendes Volk herbeigeredet werden. Ort der Demokratie?

Stadtachse, Weltachse
Das klingt gerade nicht nach lebendiger Demokratie, denn eine wache Zivilgesellschaft nimmt sich den Raum, den sie braucht, von allein, wo immer er gerade ist. Die Fantasie der Planer bei der Ausdeutung des wüsten Areals ist beachtlich: „Hier kreuzen sich eine Weltachse (zwischen Humboldt-Forum und Fernsehturm) und eine Stadtachse (zwischen Rathaus und Marienkirche). So ist der Ort ein Stadtplatz und Weltplatz zugleich“, heißt es in einem Papier der Stiftung Zukunft Berlin. Die Jungs, die derweil auf dem Volleyballplatz spielen, ahnen davon nicht das Geringste.
Mit ihren großen Plänen überspielen beide Fraktionen, was sie eigentlich genau wissen: Den Berliner ist die Vorstellung einer städtischen Mitte wesensfremd, denn die Stadt ist eben nicht konzentrisch um ihren einstigen Kern gewachsen. Dass die Berliner Stadtentwicklung der Kernstadt den Rücken kehrte, begann, als die barocke Stadterweiterung sich nach Westen orientierte, in Richtung des heutigen Brandenburger Tors, der Friedrichstraße und des Gendarmenmarkts. Von der bürgerlichen Stadt wollten die friderizianischen Planer nichts wie weg.

Und so ging es weiter. Das 19. Jahrhundert betrieb in der Kernstadt Kahlschlagsanierung, bis mit Ausnahme der Kirchen nichts mehr vom Mittelalter vorhanden war. Und mit dem „Neuen Westen“ in Charlottenburg etablierte sich vor vier Generationen endgültig eine Stadtvorstellung, die statt eines Kerns mehrere Zentren kennt.

Dass eine Bebauung auf den historischen Parzellen den Berlinern wieder ihre innere Mitte wiedergeben könnte, ist schwer zu glauben. Sieht man sich Simulationen an, wirken die Neubauten, die dort zum Beispiel St. Marien umzingeln könnten, nicht anders als das, was in Serie neu gebaut wird in Moabit.
So bleibt die Aufgabe, die vergessene Mitte zu gestalten, die größte Herausforderung der Berliner Stadtplanung. Was für ein Geschenk, möchte man meinen. Welche Großstadt hat das schon – eine leere Mitte, frei für die Fantasie und die Bauwirtschaft!? In Wahrheit macht die lakonische Weite weiterhin ratlos. Denn die Größe des Areals steht dem entgegen, was man empfehlen möchte: Habt ihr es nicht eine Nummer kleiner? Fatal wäre es, wenn man sich später mal zurück sehnte nach dem kruden Charme des jetzigen Zustands.

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